Februar 2015: Das sind meine letzten Tage in Wien und meine ersten Tage in Graz. Mit dem Kopf bin ich im Augenblick irgendwo dazwischen. Ab März geht es für mich am Literaturhaus und an der Uni Graz beruflich los. Aber während ich das hier schreibe, sitze ich quasi schon einmal probeweise in meiner neuen Wohnung. Die Familie kommt später nach. Draußen auf einem Baum in gleicher Höhe wie ich selbst krächzt eine Krähe. Ansonsten ist es hier unheimlich still. Einer der ruhigsten Faschingsdienstage, die ich jemals erlebt habe.

 

Um die Welt erfassen und verstehen zu können, müssen ihre Zeichen und Symbole gelesen werden. Online deuten unterschiedliche Icons oder Logos auf immer mehr Informations- oder Kommunikationsmöglichkeiten hin, in den Straßen verraten uns bildlich dargestellte Zeichen, wo bestimmte Ge- und Verbote eingehalten werden sollen oder beispielsweise Lebensmittel verkauft werden. Selbst ohne einzelne Schriftzeichen lesen zu können, ist ein überdimensional dargestelltes, gelbes Einkaufssackerl an der Fassade eines Geschäftslokales jederzeit identifizier- und "les"bar. Die Schriftzeichen verschmelzen mit der allegorischen Darstellungsweise zu einem Gesamtbild, eine Botschaft wird gemeinsam und mittels beider Ebenen dargestellt. "Bilder werden in Wörter übersetzt und umgekehrt, und daraus entsteht eine Sprache, mit deren Hilfe wir unser Dasein erfassen und begreifen wollen. Die Bilder, aus denen unsere Welt besteht, sind Symbole, Zeichen, Botschaften und Allegorien. (…) Unsere Existenz beruht auf Sprache und Bildern."(1)

 

Aus Bildern werden Gedanken, aus Gedanken Worte

Dieses essentielle Zusammenspiel von Sprache und Bildern ist im Medium Bilderbuch bedeutungstagend. Hier verschmelzen Schrift und Illustrationen auf unterschiedliche Weisen, gehen miteinander ein Spiel ein, um gemeinsam ihre Geschichte zu erzählen. Philip Waechter illustriert beispielsweise in "Kuchen bei mir" auf der Bildebene eine komplexe Handlung, bespickt mit Details und angedeuteten Binnenhandlungen, während sich der Text mit einzelnen Aufforderungs- und Fragesätzen einerseits zurücknimmt und andererseits einen deutlichen Kontrapunkt setzt. Ein Wal schwimmt durch die stürmischen Wellen der Illustration, eine Glasflasche wird durch seine Wasserfontäne in die Höhe geschleudert. Der Text zu diesem Bild sagt: "Es gibt Kuchen!"(2) Auf den ersten Blick scheinen sich Bild- und Textebene uneinig zu sein, als würden sie zwei unterschiedliche Ziele verfolgen, ihr stimmiges sowie humoristisches Zusammenspiel erschließt sich erst aus dem Ende des Buches.

 

"Dementsprechend lässt sich auch das Lesen von Illustrationen konzeptualisieren als Prozess, in dem Wahrnehmung in Kommunikation übergeht und umgekehrt. Die Bildlektüre webt einen Teppich aus Wahrnehmungen und Worten, in dem immer neue Muster entstehen."(3) Aus Bildern entstehen also Gedanken und Wörter. Ein Vorgang, welcher auch beim Lesenlernen der Schriftzeichen eine Schlüsselrolle einnimmt. Die ersten selbst gelesenen Worte sind oftmals eng mit Schriftbildern, Symbolen und Illustrationen aus dem persönlichen Umfeld verbunden. Paulus Hochgatterer erzählt in "Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe" von solch einem Leselernprozess: "Was das erste Wort war, das ich lesen konnte, weiß ich nicht mehr. Fragt man meine Mutter, so behauptet sie, es sei 'Fleischerei' gewesen, und ich hätt es beim Einkaufengehen mit ihr gelernt."(4)

 

Aus Bildern werden Gedanken, aus Gedanken Worte, aus Worten Geschichten

Während die persönliche Leselerngeschichte Paulus Hochgatterer mit dem Schriftbild der Fleischerei startet, erzählt Shaun Tan in seinem Skizzenbuch "Der Vogelkönig": "Meine Geschichten beginnen zumeist weniger mit Worten als mit Bildern, mit bescheidenen, ziemlich ziellosen Skizzen."(5) Bevor Worte einen Text formen, sind oftmals schon die Bilder da, aus denen sich nach und nach eine Geschichte entwickelt. Renate Habinger zeigt in "Kritzl & Klecks" Schritt für Schritt, wie aus dem roten Klecks ihres Borstenpinsels die Figur entsteht. Ein Aquarellpinsel lässt aus dem Klecks den Körper der Figur wachsen.(6) Die Augen der BetrachterInnen erkennen Gliedmaßen, die Worte "Hände" und "Füße" formen sich in deren Gedanken. Kaum steht zwei Bilder weiter eine fertige Figur auf der bis dahin noch fast leeren Seite des Buches, beginnen sich Fragen herauszubilden: Was wird diese Klecks-Figur als nächstes tun? Wen wird sie treffen? Wohin wird sie sich bewegen? "Wir denken in Bildern und versuchen ständig, sie in Beziehung zu größeren Zusammenhängen zu setzen."(7), betont auch Stefan Hauck in seinem Artikel "Ein Bilderbuch ist eine Entdeckungsreise inmitten bunter Bilder."

 

Das Verstehen der Zusammenhänge, die durch Bilder hervorgerufen werden, begleitet alltägliches Leben ebenso wie die Rezeption diverser, visuell arbeitender Medien. Der Eingang der Lebensmittelhandlung ist durch den Wiedererkennungswert des Logos stets leicht zu finden. Schritt für Schritt entsteht das vorerst noch unfertige Möbelstück, wortlos nur anhand seiner Bauanleitung.

 

Bildleseprozesse sind der Beginn immer komplexerer Handlungen. Sie bringen Wörter hervor, provozieren Gedankengänge und sind Ausgangspunkte, Begleiter oder selbständige Träger von Geschichten.

 

Anmerkungen

(1) Alberto Manguel: Bilder lesen. Aus dem Engl. v. Chris Hirte. Berlin: Volk & Welt 2001. S. 13.

(2) Philipp Waechter: Kuchen bei mir. Weinheim: Beltz & Gelberg 2014. Ohne Paginierung.

(3) Michael Baum: Illustrationen lesen. Zur intermedialen und historischen Differenz am Beispiel von Gullivers Reisen. In: Gudrun Marci-Boehncke/Matthias Rath: BildTextZeichen lesen. Intermedialität im didaktischen Diskurs. S. 39 – 53, S. 40.

(4) Paulus Hochgatterer: Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe. Eine Poetik der Kindheit. Wien: Deuticke 2012. S. 84.

(5) Shaun Tan: Der Vogelkönig und andere Skizzen. Aus dem Engl. v. Eike Schönfeld. Hamburg: Carlsen 2011. S. 3.

(6) Vgl.: Renate Habinger/Verena Ballhaus: Kritzl & Klecks. Eine Entdeckungsreise ins Land des Zeichnens & Malens. Nilpferd in Residenz 2014. Ohne Paginierung.

(7) Stefan Hauck: Ein Bilderbuch ist eine Entdeckungsreise inmitten bunter Bilder. Wie Bilderbücher den Blick schulen und an Kunst heranführen. In: Nicola Bardola/Stefan Hauck/Mladen Jandrlic/Susanne Wengeler: Mit Bilderbüchern wächst man besser. Stuttgart: Thienemann 2009. S. 27 – 47, S. 36.

Im Alltag ist Bildlesekompetenz unumgänglich. Ob für Bauanleitungen schwedischer Möbelhäuser, im Straßenverkehr oder bei der Internetrecherche: Alltagskommunikation ist Kommunikation in Bildern.

AutorIn: 
Andrea Kromoser
Thema des Monats Teaser: 

Im Alltag ist Bildlesekompetenz unumgänglich. Ob für Bauanleitungen schwedischer Möbelhäuser, im Straßenverkehr oder bei der Internetrecherche: Alltagskommunikation ist Kommunikation in Bildern.

Bis vor kurzem verstanden die meisten Menschen unter dem Begriff "Comic" Figuren wie Superman, Fix und Foxi, Donald Duck und Asterix: Formelhafte Serien für Kinder von 7 bis 77 mit Hang zu Humor und eskapistischen Abenteuern. Das hat sich geändert. Unter dem neuen Gattungsbegriff "Graphic Novel" befreite sich der Comic aus der Schmuddelecke im Kinderzimmer und etablierte sich als zeitgemässe künstlerische Ausdrucksform mit hohem inhaltlichem und ästhetischem Potenzial. Einer der Gründe für diese Emanzipation: Zahlreiche Comic-Autoren entdeckten die Wirklichkeit als Thema: Der Holocaust und Hiroshima, das Aufwachsen im Iran der Ayatollahs und Reportagen aus dem Gazastreifen, autobiographische Alltags- und Lebensgeschichten, Essayistisches und literarisch anspruchsvolle Fiktionen – damit gewann der Comic viel Respekt und neue Leserschaften.

 

Bis heute fehlt allerdings eine verbindliche Definition von "Graphic Novel". Vereinfacht lässt sich dieser Begriff am besten so einkreisen: Eine "Graphic Novel" ist eine nicht-serielle, sondern abgeschlossene Geschichte mit einem gewissen inhaltlichen, erzählerischen und künstlerischen Anspruch, die sich vor allem an eine erwachsene Leserschaft wendet.

 

Mäuse und Masken

Comics für Erwachsene gibt es seit den Sechzigerjahren – die amerikanischen Underground-Comix etwa oder seit den Siebzigerjahren die "romands bd" (Comic-Romane) europäischer Autoren wie Jacques Tardi, Hugo Pratt, Enki Bilal und anderer. Und doch sorgte Art Spiegelman für besonders Aufsehen, als er 1978 mit der Arbeit an "Maus" begann, der Lebensgeschichte seiner polnisch-jüdischen Eltern im Dritten Reich. In diese dokumentarische Nähe zu einem dermassen schwierigen Thema hatte sich zuvor kein Comic-Autor getraut. Ein Comic über den Holocaust? In welchem die Juden als Mäuse, die Deutschen als Katzen und die Polen als Schweine gezeichnet wurden? Das Unterfangen schien vermessen, ja unmöglich. Als Art Spiegelman 1991 den abschliessenden zweiten Band von "Maus" vorlegte, hatte er jedoch bewiesen, dass der Comic in der Lage ist, jedes noch so schwierige und komplexe Thema adäquat zu verarbeiten.

 

Spiegelman wurde zum Vorbild aller, die sich zeitgeschichtlichen Themen zuwandten – am erfolgreichsten Marjane Satrapi, die in "Persepolis" ihr Aufwachsen im Iran der Ayatollahs schilderte. Aber auch Joe Saccos Reportagen aus dem Gazastreifen, übten einen grossen Einfluss aus, indem sie bewiesen, wie wirkungsvoll die Verbindung von gezeichnetem Bild und Text zur Vermittlung vielschichtiger Wirklichkeiten eingesetzt werden kann. 

 

Aber auch der fiktionale Comic erfuhr eine Ausdehnung seines Potenzials. Das erfolgreichste Beispiel ist Chris Wares autobiographisch grundiertes "Jimmy Corrigan". Auf 360 Seiten schildert Ware das erste Wochenende, das der 30jährige Büroangestellte Jimmy Corrigan mit seinem Vater, der Frau und Kind kurz nach dessen Geburt verlassen hatte, verbringt. Mit seinem verschachtelt erzählten und die Psychologie seiner Charaktere in ebenso klaren wie kühlen Bildern ausleuchtenden Roman hat Ware die Ausdrucksmöglichkeiten des Comics revolutioniert und dazu beigetragen, dass der Comic als literarische Gattung ernster genommen wird als je zuvor. 

 

Der deutschsprachige Sonderfall

Diesen Entwicklungen hinkte der traditionell comic-resistentere deutsche Sprachraum lange hinterher, obschon auch hier schon früh Verlage wie die Zürcher Edition Moderne (seit 1980!), Reprodukt (seit 1990) und später auch der Avant Verlag (seit 2000) anspruchsvolle Comics für Erwachsene veröffentlichten. Im Gegensatz zu den grossen Comic-Verlagen interessierten sich die unabhängigen auch früh schon für die einheimischen Szenen und scharten junge Talente um sich, die mittlerweile auch international anerkannt sind – Nicolas Mahler beispielsweise, oder Reinhard Kleist, Barbara Yelin, Ulli Lust, Mawil, Thomas Ott, Anke Feuchtenberger und viele mehr. 

 

Die Fülle an inhaltlich relevanten und künstlerisch wie erzählerisch vorzüglichen Comics, die nach 2000 erschienen sind, konnte selbst das deutsche Feuilleton nicht ignorieren, und die Graphic Novel wurde auch im deutschen Sprachraum zum Medienthema. Längst haben auch die etablierten Comic-Verlage wie Carlsen und Ehapa mit eigenen Graphic-Novel-Reihen mitgezogen, und auch Belletristik-Verlage wie Suhrkamp, Kiepenheuer & Witsch, Atrium, Eichborn und S. Fischer nehmen seit einigen Jahren Graphic Novels in ihr Programm auf. 

 

Urknall und Befreiung

Von Trends zu sprechen ist schwierig. Der Urknall liegt noch zu kurz zurück, noch steckt die Szene in der Phase der Befreiung, der Öffnung, des Aufbruchs und des Ausprobierens. Nachdem der Comic jahrzehntelang in die Kinder- und Schund-Ecke gesteckt und auf einige wenige Stereotypen reduziert wurde, ist nun endlich alles erlaubt – und alles wird ausprobiert – dementsprechend gross ist die Vielfalt. 

 

Tatsache ist aber, dass dokumentarische Comics nach wie vor boomen: Mit "Irmina" legte Barbara Yelin eine meisterhafte, an das Leben ihrer Grossmutter angelehnte Reflektion über Mitläufer und Opportunisten im Dritten Reich vor, während Mawil im schmissig erzählten "Kinderland" die letzten Wochen der DDR aus der Perspektive des 13jährigen Schülers, der er damals war, schildert. Mit "Boxer" lieferte Reinhard Kleist die mit dem deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnete Biographie des boxenden KZ-Häftlings Hertzko Haft vor, und Ulli Lusts schonungslos autobiographischer Road-Comic "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens" wurde in viele Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 

 

Das sind nur ein paar deutschsprachige Beispiele, die einen kleinen Bereich der gegenwärtigen internationalen Produktion abdecken. Der Comic steckt in einer sehr aufregenden Phase: Vom Superhelden bis zum Holocaust, von der Reportage bis zum Fantasy-Epos, von lustigen Tieren bis zu hochliterarischen Romanen, von philosophischen Essays bis zum exotischen Abenteuer, von Comics fürs Vorschul- bis zum Erwachsenenalter – der Comic kann und darf alles, und nichts und niemand setzt den Comic-AutorInnen noch Grenzen.

In den letzten Jahren hat der Comic sein zweifelhaftes Image hinter sich gelassen und einen fulminanten Aufstieg erlebt. Unter dem neuen Begriff "Graphic Novel" emanzipierte er sich zur respektablen literarischen Gattung mit inhaltlich relevanten und künstlerisch wie erzählerisch vorzüglichen Produktionen. 

AutorIn: 
Christian Gasser
Thema des Monats Teaser: 

In den letzten Jahren hat der Comic sein zweifelhaftes Image hinter sich gelassen und einen fulminanten Aufstieg erlebt. Unter dem neuen Begriff "Graphic Novel" emanzipierte er sich zur respektablen literarischen Gattung mit inhaltlich relevanten und künstlerisch wie erzählerisch vorzüglichen Produktionen. 

Mein neues Jahr, ergo auch der Jänner, beginnt traditionell mit einem Ereignis, das mich unweigerlich an meine Kindheit denken lässt, denn: Ich habe Geburtstag. Und ich bin einst in einer Welt aufgewachsen (immerhin bis zu meinem siebten Lebensjahr), in der Kinderbücher, Zeichentrickfilme und Märchen eine prägende Rolle spielten. Ja viel mehr noch, ich stamme aus einem Land, in dem Märchen-, Zeichentrick- und Fantasiewelten eine zentrale gesellschaftliche Stellung einnahmen.

Im Dezember überfällt mich üblicherweise eine russische Wintersehnsucht. Diese Sehnsucht manifestiert sich in imaginiertem Rückzug. Der Blick aus dem Fenster sollte unbedingt ein Schneegestöber im dunkler werdenden Blau bieten. Das Sofa vorgewärmt von Katzen.Tischchen mit einer Teekanne aus blauem Gschel-Porzellan meiner Kindheit, einem gestrickten roten Plaid und einem Stapel Klassiker, die ich als Kind erzwungenerweise las und als Teenager natürlich wieder vergessen hatte.

International erfolgreich sind österreichische Filme nämlich vor allem auf Festivals. Und Festivals haben sich längst zu einem Paralleluniversum zum herkömmlichen Kino entwickelt. Von den in Europa hergestellten Spielfilmen – es sind mittlerweile mehr als 1.500 pro Jahr – werden weit weniger als die Hälfte regulär in Kinos ausgewertet. Der größte Teil ist ausschließlich auf den Leinwänden kleinerer oder größerer Festivals zu sehen. Und selbst ein ansehnlicher Festivalerfolg garantiert noch keineswegs, dass der gegebenenfalls mit mehreren Preisen prämierte Film außerhalb des Festivalbetriebs eine entsprechende Zahl von Besuchern ins Kino lockt.

 

Ein anschauliches Beispiel ist "Michael", das Regiedebüt von Markus Schleinzer über einen allein lebenden Versicherungskaufmann, der in seinem Keller ein Kind gefangen hält, um es regelmäßig sexuell zu missbrauchen. Der Film war für mehr als ein Dutzend internationale Wettbewerbe nominiert und hat einige renommierte Preise gewonnen. Im Kino gesehen haben ihn allerdings wenig mehr als 6.000 ZuseherInnen (das ist ein Hundertstel der Besucherzahlen einer 08/15-Hollywood-Komödie wie "Hangover 2", die im selben Jahr wie "Michael" in österreichischen Kinos lief).

 

Qualität oder Markterfolg?

Mit qualitativ anspruchsvollerem Kino scheint es also so zu sein wie mit anspruchsvoller Literatur: Das Feuilleton und ein kleiner Kreis von Connaisseurs liebt sie, die Mehrheit ignoriert sie. Diese Ansicht vertreten vor allem ambitionierte Filmemacher, denen ein nennenswerter Markterfolg versagt bleibt. Doch abgesehen davon, dass sie ihre Meinung zu diesem Thema in der Regel ändern, sobald sich der Erfolg einstellt, lässt sich feststellen, dass sich das erwähnte Konfliktverhältnis zwischen Qualität und Markterfolg ebenso gut widerlegen wie bestätigen lässt. Natürlich hat es eine flockige Kalauerkomödie mit lauter aus Funk und Fernsehen bekannten Publikumslieblingen in den Hauptrollen leichter als ein im Sozialbau angesiedeltes Migrantendrama von einem Filmakademie-Absolventen. Andererseits würde sich ein Michael Haneke, der mit seinem trostlosen Sterbedrama "Liebe" die 100.000er-Marke überschritten und mit dem Vorgänger "Das weiße Band" gar über 120.000 ZuseherInnen ins Kino gelockt hat, zu Recht dagegen verwehren, dass er sich neuerdings mit Qualitätsabstrichen einem breiten Publikum andient. Unter den bemitleidenswertesten Flops wiederum finden sich ganz gewiss nicht nur verkannte experimentierfreudige Meisterwerke, sondern durchaus Filme, die es prinzipiell mit einem breiteren Publikum aufnehmen wollten.

 

Österreichischen Filmen in branchenüblicher Graben-Mentalität entweder Qualität oder Marktfähigkeit zu bescheinigen – sprich: sie in Kunst auf der einen und Kommerz auf der anderen Seite zu trennen –, mag in manchen Fällen zwar eine gewisse Richtigkeit zu haben. Dennoch ist sie weder für Filmschaffende noch fürs Kinopublikum eine sinnvolle Orientierungshilfe. Niemand macht Filme, um damit möglichst wenige ZuseherInnen zu erreichen (und das als Qualitätsbestätigung zu interpretieren). Und es mögen auf der Publikumsseite zwar viele dem Herdentrieb folgen und sich vornehmlich Filme ansehen, die jeder andere auch sehen will, aber es wird kaum jemand das Kino verlassen, wenn plötzlich (was mitunter vorkommt) ein Kassenschlager mit hohem künstlerischen Niveau überrascht.

 

Komödien mit Starbesetzung oder die richtigen Themen?

Ein Blick auf die österreichischen Kassenschlager der letzten 20 Jahre zeigt zwar einerseits, dass die hierzulande bewährte Kombination Komödie mit Kabarettisten-Starbesetzung besonders erfolgsträchtig ist. Er zeigt aber auch, dass diese Kombination weder im Widerspruch zu Qualität stehen muss – z. B. die Kabarett-Adaption "Indien" von Paul Harather (1993) oder Wolfgang Murnbergers Wolf-Haas-Verfilmungen "Komm süßer Tod" (2000), "Silentium" (2004) und "Der Knochenmann" (2009) –, noch dass lediglich diese Kombination Erfolg verspricht. Man denke an Erwin Wagenhofers beispiellos erfolgreichen Dokumentarfilme "We feed the world" (2005) und "Let’s make money" (2008), Stefan Ruzowitzkys mit dem Auslandsoscar prämierten Film "Die Fälscher" (2007), das Regiedebüt des Schauspielers Karl Markovics "Atmen" (2011) oder Ulrich Seidls "Hundstage" (2002). Natürlich ließen sich für jeden dieser Filme glückliche Umstände anführen, die den Erfolg mitbegründet haben. Die Finanzkrise, die in Fall von "Let’s make money" wie ein spektakulärer PR-Gag gewirkt hat, ein "Oscar", der "Die Fälscher" auch für Nicht-CineastInnen attraktiv erscheinen ließ, die Bekanntheit des Schauspielers Karl Markovics (unter anderem aus "Die Fälscher"), auf dessen ersten Spielfilm "Atmen" natürlich sehr viele neugierig waren, der Spezialpreis der Jury für "Hundstage" den Filmfestspielen in Venedig. Doch sind diese scheinbaren "Glücksfälle" nicht auch Qualitätsmerkmale? So hat Erwin Wagenhofer mit seinen Dokumentarfilmen etwa ein besonderes Gespür für die richtigen Themen zum richtigen Zeitpunkt gezeigt, und Preise wie der "Auslandsoscar" oder der Jurypreis in Venedig zeugen an sich schon von einem gewissen Niveau. Und wäre "Atmen" nicht ein guter Film, hätte auch der bekannte Schauspieler auf dem Regie-Posten nichts genützt. 

 

Mit der aggressiven Großmacht Hollywood konkurrieren zu wollen, wäre für ein kleines Filmland wie Österreich albern. Und ebenso albern wäre es, sich trotzig in eine Nische zurückzuziehen und sich angewidert vom Markt abzuwenden, weil der eigene gute Geschmack in so krassem Gegensatz zur Geschmacklosigkeit der Massen steht. 

 

Für die genannten Erfolgsfilme aus Österreich gilt letztlich, was Billy Wilder, in dessen Filmen Qualität und Markttauglichkeit souverän vereint sind, als die drei wichtigsten Regeln fürs Filmemachen genannt hat: "Du sollst nicht langweilen, du sollst nicht langweilen und du sollst nicht langweilen". 

Österreichische Filme sind im Ausland selten erfolgreich. Zumindest lässt sich mit ihnen dort kein Geld verdienen. Aber sie genießen international einen erstaunlich guten Ruf. Das klingt nach einem Widerspruch, der sich jedoch leicht aufklären lässt.

AutorIn: 
Robert Buchschwenter
Thema des Monats Teaser: 

Die Viennale 2016 ist vorbei und man resümiert über das nationale und internationale Filmgeschäft. Österreichische Filme sind im Ausland selten erfolgreich. Zumindest lässt sich mit ihnen dort kein Geld verdienen. Aber sie genießen international einen erstaunlich guten Ruf. Das klingt nach einem Widerspruch, der sich jedoch leicht aufklären lässt.

Wenn junge SchülerInnen erstmals die Bibliothek ihrer Schule betreten, ist ein Gefühl stets allgegenwärtig: die Neugier auf die dargebotenen Medien und die Freude darüber, das erste Buch, das erste Comic oder die erste DVD ausleihen zu dürfen. Doch die Zugänge zum Lesen an sich und zu Bibliotheken im Allgemeinen ändern sich klarerweise im Laufe des Älterwerdens. So ist es das Bestreben der Schulbibliothek, einerseits die Lesefreude zu fördern und andererseits die selbstverständliche Nutzung der Bibliothek als Bildungs-, Kultur- und Freizeiteinrichtung im Alltagsleben der Jugendlichen zu verankern.

 

Lesefreude erleben

  • Atmospäre: Schulbibliotheken haben das Potenzial, Lesekultur und Lesefreude an einer Schule wesentlich mitzugestalten. Eine gemütliche und entspannende Atmosphäre macht die Schulbibliothek zu einem besonderen Ort in einem Schulgebäude. Ein Lesesessel, eine gemütliche Lesecouch oder gar eine Leseliege schaffen für SchülerInnen Möglichkeiten des individuellen Rückzugs mit einem Buch, einer Zeitschrift oder einem E-Reader in der Betriebsamkeit des Schulalltags.
  • Präsentation: Kreative Präsentationsformen machen zudem neugierig und helfen die Leselust zu steigern. So können beispielsweise neue Bücher in der Vorweihnachtszeit, mithilfe einer Schleife als „Päckchen in der Bibliothek verteilt, besondere Anreize bieten. Ebenso verführen spezielle Regale, die (temporär) einem übergeordneten Thema gewidmet sind (z.B. „Boys Only“, „Sport und Spiel“, „Zum Verlieben“), zum Schmökern.
  • Aktion: Das Spektrum an Aktivitäten, die von SchulbibliothekarInnen im Laufe eines Schuljahres rund um das Lesen initiiert werden, ist breit gefächert. AutorInnenlesungen in der Schule stellen für die meisten SchülerInnen die erste persönliche Begegnung mit einem Autor/einer Autorin dar. Das Interesse an Literatur des geladenen Autors/der geladenen Autorin ist nach einer Lesung immer besonders groß. Aber auch Vorlesestunden (von LehrerInnen, DirektorInnen, Eltern, Großeltern, SchülerInnen …), Literaturcafés (z.B. zur Präsentation junger AutorInnen der eigenen Schule), Buchausstellungen oder Bücherbasare animieren zum Lesen.
  • Medienvielfalt: Ob Bücher, E-Reader, Zeitschriften, DVDs, CDs oder Internetzugang – die Medienvielfalt in der multimedialen Schulbibliothek soll einerseits die Medienwelt der Kinder und Jugendlichen widerspiegeln und andererseits zur Nutzung der unterschiedlichsten Medienformate anregen.

 

Lesen als Schlüssel zur eigenen Lebenswelt entdecken

Ob Spannung, Entspannung oder Wissenserwerb – die Relevanz und die Funktion des Lesens verändern sich im Laufe des Älterwerdens. Für die Förderung der Lesemotivation von Kindern und Jugendlichen ist daher eine Vielfalt an Lesestoffen wie auch Lesemedien in der Schulbibliothek von zentraler Bedeutung.

  • Medien: Beim Medienankauf stehen SchulbibliothekarInnen somit im Spannungsfeld zwischen den Anforderungen des entsprechenden Bildungsauftrags einer Schule (z.B. Schwerpunkt Tourismus, Technik, Umwelt, Sport etc.) und dem Anspruch, das individuelle Leseinteresse mit Texten aktueller Kinder- und Jugendliteratur bestmöglich zu fördern.
  • Pädagogisches: Die Schulbibliothek hat das Potenzial, schülerzentriertes, handlungsorientiertes Lernen in einem größeren Rahmen zu ermöglichen. Im Zuge von projektorientierten, offenen Lernaufträgen können SchülerInnen in der Schulbibliothek selbstständig Information sammeln, bewerten und verarbeiten, wobei der Umgang mit digitalen Medien und Printmedien gleichermaßen geübt wird. Bei der Literaturvermittlung kann die Schulbibliothek neben den oben beschriebenen Anreizen v.a. beim Lesen im Klassenverband Alternativen zur herkömmlichen Klassenlektüre bieten. Erst die individuell gewählte Lektüre wird den unterschiedlichen Lesekenntnissen und Leseinteressen der SchülerInnen gerecht. BibliothekarInnen können bei der Auswahl beratend unterstützen bzw. durch die Aufstellung der Medien, z.B. nach Interessenskreisen, eine gute Orientierungshilfe bieten. Webbasierte Programme zur Leseförderung (z.B. Antolin) sind eine gute Ergänzung zum individuellen Lesen.

 

Selbstständigkeit durch Lesen erfahren

Eine wesentliche Intention schulbibliothekarischer Arbeit ist, dass SchülerInnen erfahren, was ihnen Lesen für ihre eigenen Ziele und Interessen ermöglicht. Durch die Förderung und Festigung guter Lesegewohnheiten, sowie den Erwerb geeigneter Methoden, um sich selbstständig Wissen anzueignen, leistet die Schulbibliothek einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Lernkompetenz.

  • Recherche: Selbstständiger Wissenserwerb benötigt Fähigkeiten und Fertigkeiten, die es den Lernenden ermöglichen, sinnvolle Suchstrategien anzuwenden und Ressourcen zu bewerten. Gerade auch im Hinblick auf die Vorwissenschaftliche Arbeit (AHS) und die Diplomarbeit (BHS) im Rahmen der neuen Reifeprüfung ist der gezielte Aufbau von Recherchekompetenz bei SchülerInnen der Sekundarstufe II von besonderer Bedeutung.
  • Vernetzung: Der Erwerb von bibliothekarischen Grundfertigkeiten in der Schulbibliothek ist aber auch eine wichtige Voraussetzung für vertiefende Rechercheschulungen in öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken. In der Schulbibliothek können SchülerInnen die einzelnen Schritte einer Literaturrecherche kennen lernen und festigen. Ein kritischer Umgang mit den Suchergebnissen ist dabei ebenso wichtig wie deren Dokumentation mittels Online-Tools (z.B. Bookmerken, Delicious) oder das Einschätzen von Quellen bezüglich ihrer Brauchbarkeit in verschiedenen Arbeitsphasen der Recherche. Eigens entwickelte Modellrecherchen stehen den Schulbibliotheken als Unterstützung zur Verfügung (siehe weiterführende Literatur). Durch eine derartige Kooperation von Schulbibliothek und Öffentlicher Bibliothek können SchülerInnen optimal gefördert werden.

 

Literatur:

  • Margit Böck u.a.: Praxismappe Lesen. Unterrichtsbeispiele für die Förderung der Lesemotivation von Mädchen und Buben in der 5. und 6. Schulstufe. Wien: 2009. 
  • Markus Fritz: Innovative Schulbibliotheken. In: Wege zu pädagogisch gestalteten Lehr- und Lernräumen. Bozen 2013, Heft 03. OECD (2010c). PISA 2009 Results. Learning to Learn. Student Engagement, Strategies and Practices. Volume III. Paris: OECD.
  • Ferdinand Gschwendtner, Helga Simmerl u.a.: Modellrecherchen für Schulbibliotheken. Wien: 2014. 

 

Schulbibliotheken erfüllen heutzutage zahlreiche Aufgaben, um den Erwerb von Informations-, Recherche-, Medien- und Lesekompetenz zu unterstützen. Als zentraler Ort des Lesens innerhalb des komplexen Schulkosmos hat die Schulbibliothek die große Chance, eine umfassende Lesekultur zu etablieren und die Lesemotivation und Lesekompetenz aller SchülerInnen zu stärken.

AutorIn: 
Helga Simmerl
Thema des Monats Teaser: 

Schulbibliotheken erfüllen heutzutage zahlreiche Aufgaben, um den Erwerb von Informations-, Recherche-, Medien- und Lesekompetenz zu unterstützen. Als zentraler Ort des Lesens innerhalb des komplexen Schulkosmos hat die Schulbibliothek die große Chance, eine umfassende Lesekultur zu etablieren und die Lesemotivation und Lesekompetenz aller SchülerInnen zu stärken.

Mit dem Lesen ist es so eine Sache. Immer macht dir jemand ein schlechtes Gewissen. Das ist zu süß, das macht dick im Kopf, hier machen Sie es sich zu einfach, Frau Medusa. Dabei sind die Instanzen der Schelte selbst einseitig unterwegs. Die Bücher, die man gelesen haben muss, sind von Autoren, die häufig tot sind, gerne männlich und meistens weiß. Das Prinzip dahinter nennt sich Kanon. Sich dagegen zu wehren ist, wie gegen den Strom schwimmen: Es macht absolut nicht dick, schon gar nicht im Kopf.

Mit einiger Distanz betrachtet ist das Lesen von Büchern eine merkwürdige Tä­tigkeit. Was bringt Menschen dazu, stundenlang still zu sitzen oder zu liegen und auf einen gebundenen Stapel bedruckten Papiers zu schauen? Welche Vorstellun­gen, Gedanken und Gefühle sind damit verbunden, welche Bedeutung hat das Lesen von Büchern für die Einzelnen und für die Gesellschaft und wie verändert sich all das im Laufe der Geschichte? Nicht nur Psychologie und Literaturwissenschaft, sondern auch Romane und Erzählungen setzen sich immer wieder mit diesen Fragen auseinander, besonders intensiv in Zeiten kultureller Umwälzungen. Die Literatur wirft freilich einen ganz spezifischen Blick auf das Bücherlesen und seine Geschichte, eröffnet einen Zugang zu Dimensionen der Lektüre, die der traditionellen Leseforschung verborgen bleiben. Das sollen einige Schlaglichter auf Lesedarstellungen in der Gegenwartsliteratur zeigen.

 

Zugang zur fremden Vergangenheit

"Es gibt Emotionen, die existieren nur mehr durch das Buch. Was zum Beispiel 'Ehre' bedeutet, in einem glaubwürdigen Sinn und Pathos des Wortes, können wir in unseren Verhältnissen nicht mehr erfahren. Aber im Medium der Erregungen, in die uns etwa die Lektüre von Kleists 'Marquise von O …' versetzt, füllt sich das leere, entfallene Wort plötzlich mit seinem ganzen sozialen und lebensgefährlichen Ernst (…). Einen solchen abrupten Zuwachs von Gedächtnis kann letztlich nur das Buch ermöglichen. Es setzt das strikte, ungestörte Alleinsein mit dem abwesenden Autor und die stimmlose Ein-Mann-Sprache des Erzählens voraus. Es setzt voraus, dass wir den Text als etwas Übriggebliebenes, als Originalfundstück, als Rest auflesen." Botho Strauß' Erzählung "Die Widmung" (1977) bringt eine Funktion des Bücherlesens zur Sprache, die für unser Verhältnis zur Geschichte grundlegenden Charakter hat und die in der neuen Medienwelt zu verschwinden droht. Das Lesen von Literatur aus früheren Zeiten ermöglicht laut Strauß nämlich einen privilegierten Zugang zum kulturellen Gedächtnis, zu historischen Denk- und Handlungsweisen, zu Wertmaßstäben und kulturellen Erfahrungen, die im Akt des Lesens noch einmal durchlebt und damit verstanden werden können. Dieser Zugang wird freilich nicht durch das Vermitteln von geschichtlichen Informationen bewerkstelligt, sondern auf der Ebene des Gefühls.

 

Um den alten Begriffen wieder Bedeutung zu verleihen, müssen die Lesenden in "Erregung" versetzt werden. Dafür seien aber weder Theateraufführungen noch Filme geeignet, sondern nur Bücher. Das Bücherlesen lässt nämlich die Distanz, die uns von den historischen Lebens- und Wahrnehmungsweisen trennt, nicht verschwinden, wie dramatische und audiovisuelle Darstellungen das tun. Bereits der antiquierte Sprachstil älterer Literatur erschwert eine platte Vergegenwärtigung. Dazu kommen die medialen Charakteristika der Lektüre. Die sinnliche Kargheit und der Abstraktionsgrad des schriftlichen Codes laufen einer Präsenz der Vergangenheit zuwider, präsent ist allein das Gefühl. Erst durch diese Spannung zwischen emotionaler Erregung und medialer Distanz wird es möglich, an Erlebnissen teilzuhaben, die weit vor der eigenen Lebenszeit liegen, erst dadurch wird es möglich, Vergangenes als Fremdes zu verstehen, sich dem "Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit" (Alexander Kluge) zu widersetzen.

 

Lesen und Weltwahrnehmung

Einen besonders vielschichtigen poetischen Diskurs über das Lesen entwickelt das Werk Peter Handkes. Die zentrale Funktion der Lektüre liegt für ihn in der Erweiterung und Intensivierung der Wahrnehmung. Lesen bedeutet nicht, wie erwartbar wäre, eine Abkehr von der Wirklichkeit, sondern im Gegenteil eine explizite Hinwendung zu ihr. Handkes Protagonistinnen und Protagonisten entfliehen der Welt nicht, sondern praktizieren ein "Sich-in-die-Welt-hinaus-Lesen", das die Sinne schärft, die eingefahrenen Muster durchbricht und die Erde mit neuen Augen sehen lehrt. Diese gesteigerte Wahrnehmung ist allerdings nicht mit jeder Leseweise zu haben, sondern sie erfordert eine besonders intensive Form der Lektüre, die von Handke in seinem Roman "Der Bildverlust" (2002) als "studierendes" bzw. "buchstabierendes" Lesen bezeichnet wird und die nur langsam vor sich gehen kann. "Ein Lesen wie nur je eines: buchstabierend, lautlos die Lippen bewegend, hier und da einen Wort-Laut ausstoßend, und noch einmal, und noch einmal, innehaltend, die Augen vom Buch hebend und dem gerade Gelesenen nachgehend, im Umfeld, dem näheren und dem weiteren."

 

In diesen Zeilen sind alle Elemente versammelt, die Handkes Vorstellung eines idealen Lesens ausmachen. Lippenbewegung und Stimme zeugen von höchster Intensität, wie sie auch das vormoderne, laute Lesen auszeichnete. Gleichzeitig zeigen sich Momente einer emanzipatorischen Lektüre. Die lesende Heldin in Handkes Roman ist nicht in ihr Buch versunken, sondern kann sich reflektierend von ihm lösen, es mit ihrer Umwelt, ihrer Situation, ihrem Leben in Beziehung setzen. Dazu kommt die Bedachtsamkeit, mit der mit dem Text umgegangen wird und die sich diametral von den Formen des Lesens unterscheidet, wie sie sich gegenwärtig verbreiten. Laut aktuellen empirischen Studien wandeln sich die Lesestrategien in Richtung überfliegendes Lesen, Heraussuchen kleiner Informationsbrocken, paralleler und partieller Lektüre mehrerer Bücher. Solch oberflächliche Lektüre ist als Reaktion auf die wachsende Informationsflut verständlich, intensive Leseerfahrungen können so freilich nicht mehr gemacht werden.

 

Handkes Lesekonzept propagiert demgegenüber das genaue Gegenteil. Er hält dem "Durchschnüffeln" der Texte eine Exaktheit und Langsamkeit der Lektüre entgegen, die beinahe rituellen Charakter annimmt: Der Lesesessel wird ans Fenster gerückt, dann heisst es: "Jetzt wird gelesen!", beim Aufschlagen des Buches ertönt "ein Laut von sich öffnenden Lippen, sehr leise und sanft", der Finger folgt den Zeilen, "das Umblättern geradezu eine Zeremonie". Ein weiterer Bestandteil der im "Bildverlust" so pathetisch in Szene gesetzten Lektüre ist der stete Hinweis auf den Akt des Buchstabierens und Entzifferns. Darin drückt sich ein Bewusstsein aus, für das die Materialität der Zeichen im Akt des Lesens noch präsent ist. All das konvergiert in einem poetischen Programm der Verlangsamung und der Erhöhung der Intensität, das sich der Logik der herrschenden Medien entgegenstellt und dem letztlich auch die Form von Handkes Texten entspricht.

 

Die existentielle Dimension des Lesens

Der Zusammenhang zwischen der Verbreitung des stillen, einsamen Bücherlesen im 18. Jahrhundert und der Herausbildung des bürgerlichen Individuums ist historisch evident. Aber auch heute kann die Lektüre noch eine zentrale Rolle in der Ich-Entwicklung spielen, darauf verweisen die literarischen Lesedarstellungen nachdrücklich, etwa die im Jahr 2000 erschienene Erzählung "Leben zwischen den Seiten" der österreichischen Autorin Corinna Soria. Die Protagonistin, ein kleines Mädchen, wächst bei ihrer psychisch kranken Mutter auf. Das Lesen dient ihr zur Aufrechterhaltung ihrer psychischen Integrität, als Trost nach traumatisierenden Erlebnissen und als einzige Quelle einer wenigstens temporären Geborgenheit. Sie fühlt sich "aufgehoben im Rhythmus der Sprache", kann durch Gedichtzeilen ihre Seelennot benennen, sie damit bannen und sich ihrer Existenz versichern.

 

Die fiktiven Welten ihrer Indianerbücher sind der einzige Rückzugsraum, die auswendig rezitierten Verse von Schiller, Rückert und anderen der einzige Halt, wenn das Mädchen die Wahnschübe seiner Mutter, die Strafen der Pflegemutter oder das Eingreifen von Psychiatrie und Jugendamt nicht mehr zu ertragen vermag. "Ohne Bücher kann ich nicht schlafen, atmen, sein, ohne Bücher ersticke ich, gehe verloren, verliere mich, ohne Bücher verhungere, verdurste, verschwinde ich." Die Besonderheit von Sorias Erzählung ist die Verbindung von poetischer Intensität und psychologischer Authentizität, der scharfe Blick für die existentielle Dimension des kindlichen Leseerlebnisses, für die Fähigkeit, bei der Lektüre alles rundherum wegzublenden und sich in einem tiefen Lustempfinden zu verlieren.

 

Sorias Erzählung lenkt darüber hinaus die Aufmerksamkeit auf die medialen Grundlagen der Leselust. Sie macht deutlich, wie Kinder Bücher als Partituren nutzen, nach denen sie ihre Phantasien ausbreiten, aber auch wie karg im Vergleich zu den audiovisuellen Medien die Basis für diese Phantasien ist. Um die schwarzen Lettern auf dem weißen Papier zu spannenden Geschichten bzw. imaginären Räumen zu beleben, ist eine wesentlich größere Einbildungskraft vonnöten, als bei der Rezeption von Audiovisuellem, das ja unmittelbar mit den Sinnen wahrgenommen werden kann. Doch gerade die geforderte Einbildungskraft ist für die Intensität des Leseerlebnisses verantwortlich. Da der Text erst imaginiert und vervollständigt werden muss, werden wesentlich größere affektive Energien frei als beim Film- oder TV-Konsum. Dazu kommen spezifische Entgrenzungserfahrungen, denn dadurch, dass die fiktiven Welten von den Lesenden selbst geschaffen werden, lösen sich für das Ich die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt auf, während bei den audiovisuellen Medien – zumindest in den derzeit verbreiteten Artefakten – die Trennung zwischen Ich und Medium, zwischen Instanz der Wahrnehmung und wahrgenommenen Bildern und Tönen aufrecht bleibt. Die Rezipientinnen und Rezipienten verharren in ihrer Rolle als Zuschauerinnen und Zuschauer. Vor dem Bildschirm ist eben nicht "zwischen den Seiten".

 

Die Medialität des Lesens

Wie gelesen wird und welche Folgen die Lektüre zeitigt, hat also nicht nur mit dem jeweiligen Text zu tun, sondern hängt ganz wesentlich vom Lesemedium ab. Die Lektüre am Bildschirm und das Lesen gedruckter Bücher unterscheiden sich daher grundlegend, darauf verweist auch eine utopische Erzählung des DDR-Autors Franz Fühmann mit dem Titel "Pavlos Papierbuch" (1982). Im Jahr 3456 sind Papierbücher rare Sammlerstücke geworden, üblicherweise werden "Mikrofilme oder Lesekarten" mit Hilfe von "Leseschirmen" oder "Leselupen" zur Lektüre benützt. Diese Form der "Informationsübermittlung" entbehrt allerdings jeder sinnlichen Qualität. Sie ist "unfühlbar, unhörbar, unriechbar, unschmeckbar, und in keinem natürlichen Größenverhältnis zu einem menschlichen Organ." Dem wird die "sinnliche Selbstoffenbarung" der Papierbücher gegenübergesetzt, die schon "prinzipiell etwas Anderes waren" und deren Charakteristika dem Lesenden der Zukunft sofort deutlich werden, weil sie ihm nicht durch Gewöhnung selbstverständlich geworden sind wie uns.

 

Ein Papierbuch lässt sich im wahrsten Sinne des Wortes begreifen ("Dass man es anfassen konnte wie einen Leib!"), es hat einen besonderen Geruch, einen Klang, spürbare Konturen und Materialeigenschaften. "Jede seiner Seiten war ein Gebilde, das ringsum mit Blicken abschreitbar war, ein Mass an Raum, in sich geschlossen, und damit auch ein Mass für die Zeit. Dieses Mass war menschlich, weil überschaubar." Dem stehen die Unüberschaubarkeit und Immaterialität der Bildschirmtexte gegenüber, die alle menschliche Kapazität übersteigen und die Orientierung schwierig machen. "Was beim Papierbuch ein geistiger Raum war, wurde im Lesegerät ein Fließband, auf Knöpfchendruck von Ort zu Ort ruckend, dass die Akte der Rezipierung geschähen, mechanische Zugriffe des Hirnes; und wenn der Benutzer dieses Band auch auf dem Gesamtweg begleiten konnte, erschien ihm dieser doch niemals fassbar. (…) Einem Mikrofilmröllchen entnahm man nicht sinnenhaft, wie viel Lesezeit es in sich barg; beim Papierbuch wog man mit Hand und Auge, man sah, wen man da vor sich hatte".

 

Mit poetischer Anschaulichkeit und medientheoretischer Präzision führt Fühmanns Text schon kurz nach der Erfindung des PCs vor, welche Folgen das jeweilige Medium für den Akt des Lesens hat. Während man beim Buch in einen Denk- und Vorstellungsraum eintritt, legt der Bildschirm eine überfliegende Leseweise nahe, die einzelne Informationseinheiten aus dem Textfluss herauspickt, ohne ihre Position im Gesamttext verorten zu können. Beim Buch haben wir es immer mit einem bestimmten, abgeschlossenen Text zu tun, am Bildschirm liegt uns bloß ein Ausschnitt aus der gesamten digitalen Bibliothek vor Augen.

 

So zeigen bereits diese wenigen Beispiele, wie eindringlich und genau sich die moderne Literatur mit dem Bücherlesen beschäftigt. Über dessen Zukunft erlauben sie freilich keine verlässlichen Aussagen. Wohl aber ermöglichen sie einen neuen Blick darauf, welche Funktionen des Lesens auch in Zukunft von Bedeutung wären bzw. was verloren ginge, sollte diese Kulturtechnik tatsächlich in die Marginalität gedrängt werden, wie ihr das schon seit Jahrzehnten prophezeit wird. 

 

Dieser Artikel ist erstmals in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.

 

Die Anfänge der modernen Lesekultur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden von einem ausführlichen und vielgestaltigen Diskurs über das Lesen begleitet, zahlreiche lesende Heldinnen und Helden bevölkerten damals die deutschsprachige Literatur. In der modernen Mediengesellschaft befindet sich die Lesekultur erneut im Umbruch, und wieder zeigt sich die Literatur als hervorragendes Feld, um über die Kulturtechnik Lesen und ihren historischen Wandel nachzudenken.

AutorIn: 
Günther Stocker
Thema des Monats Teaser: 

In der modernen Mediengesellschaft befindet sich die Lesekultur erneut im Umbruch, und die Literatur zeigt sich als hervorragendes Feld, um über die Kulturtechnik Lesen und ihren historischen Wandel nachzudenken.

Tatsächlich bedarf es, im Gegensatz zur Lektüre von geschriebenen Texten, zum Lesen von bewegten Bildern keiner Schul- oder ähnlicher Bildung. Man setze ein Kind vor den Fernseher und es ... nun ja, es versteht zunächst einmal nicht besonders viel. Es erkennt Figuren und Dinge aufgrund deren Ähnlichkeit mit realen Figuren und Dingen wieder. Ein geschriebener Text ist in dieser Hinsicht um einiges verschlossener als Filmbilder. Das Wort "Baum" hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Baum. Wer seine Bedeutung entschlüsseln will, muss lesen lernen.

 

Filmbilder entschlüsseln

Allerdings aber muss auch, wer die Bedeutung von Filmbildern einigermaßen umfassend entschlüsseln möchte, weit mehr können als nur Figuren und Dinge wiederzukennen. Bereits die anspruchsloseste Filmhandlung erfordert gewisse Fähigkeiten – zum Beispiel die Fähigkeit, aus räumlich und zeitlich auseinander liegenden Fragmenten ein schlüssiges Ganzes zu rekonstruieren. Eine Filmhandlung gleicht in dieser Hinsicht einem Puzzle, dem Teile fehlen, dessen Motiv sich aber bei entsprechender Lesefähigkeit auf durchaus befriedigende Weise als Ganzes erschließt. So lassen sich beispielsweise in 90 Minuten Filmhandlungen erzählen, die sich über Tage, Wochen oder Jahre erstrecken – und zwar auch ohne die Verwendung von Sprach- oder Schriftbehelfen wie "später", "am nächsten Tag" u. ä. Wie die Schrift benutzen allerdings auch Filme Formeln für die Verortung einer Handlung in auseinander liegenden oder wechselnden Räumen und Zeiten. Dass Filmsprachen diese Formeln nach Möglichkeit verstecken oder zumindest mit einer Beiläufigkeit verwenden, die einem Verstecken gleichkommt, heißt keinesfalls, dass sie nicht durchgehend im Einsatz sind. Filme sind beispielsweise voller adverbialer Wendungen, die sich unauffällig in die Wahrnehmung mischen und dabei sehr präzise funktionieren. Die vage Ortsbestimmung eines Adverbs wie z. B. "Dahinter" beinhaltet in der filmischen Umsetzung bereits eine recht präzise Entfernungsangabe, ein "Sehr" eine ziemlich treffsicheren Eindruck vom Wie-Sehr und ein "Kopfüber" eine konkrete (schauspielerische) Performance.

 

Filmische Grammatik

Kamera, Setdesign, Schnitt, Filmmusik etc. sind effektive Hilfsmittel, um die "Lektüre" eines Films im Sinne einer breit gefächerten Grammatik zu steuern. Wenn zum Beispiel Ilsa (Ingrid Bergmann) in "Casablanca" ihren ehemaligen Geliebten Rick (Humphrey Bogart) mit einer Pistole bedroht, die Kameraeinstellung auf ihr Gesicht von Halbnah auf Großaufnahme wechselt, ein Streicherorchester das musikalische Motiv ihrer Liebe aufgreift und die Kameraschärfung den Hintergrund verschwimmen lässt, hat uns die filmische Grammatik den emotionalen Zustand der Protagonistin lesen (und mitempfinden) lassen – selbst wenn ihr offensichtliches Handeln dazu in scheinbarem Widerspruch steht. Die Fähigkeit, Filme im Sinne solcher konventionellen filmischen Grammatiken zu lesen, haben wir uns im Zuge unserer kulturellen Sozialisation weitestgehend ohne proaktives Zutun erlernt. Das Verständnis von Filmen mit komplexerer Rhetorik, in denen Symbolebenen, Subtexte oder subtile Bedeutungszusammenhänge sinnstiftend wirken, setzt hingegen eine Form von Bildung voraus, die sich über den Konsum des Vorabend-Fernsehprogramm – und mittlerweile bedauerlicher Weise auch großer Teile des gesamten Programms – nur schwer erwerben lässt.

 

Filme bewusst wahrnehmen

Was Filme jedoch effektiv macht, ist nicht der Grad der Komplexität ihrer Rhetorik, sondern das Maß, in dem diese Rhetorik ihre Mittel vor der bewussten Wahrnehmung zu verbergen weiß. Das klingt nach Propaganda – und ist es auch. Im besten Fall propagieren Filme durch ihre Rhetorik eine Geschichte so, dass wir sie uns wie etwas Selbst-Erlebtes aneignen. Im schlimmsten Fall operieren sie tatsächlich im Sinne politischer Propaganda.

 

An diesem Punkt ist die Unterscheidung zwischen einer habituell erworbenen Lesefähigkeit und einer darüber hinausgehenden Lesekompetenz nicht mehr nur eine Frage des ästhetischen Mehrwerts. Wer lediglich den emotionalen Bewegungen von Filmfiguren zu folgen und die Handlung im Sinne der Erzählinstanz vollständig zu erfassen imstande ist, bleibt (im besten, aber auch im schlimmsten der soeben genannten Fälle) manipulierbar. Wer hingegen die Mittel und Prozesse der Bedeutungsbildung durchschaut, erlebt bei der Filmrezeption etwas, was man, leicht dramatisch überhöht, mit luzidem Träumen vergleichen könnte: Man taucht in die Welt der Traumfabriken ein und lässt sich von deren Mechanismen mitreißen, ist sich aber über das, was einem dabei geschieht, im Klaren.

Einen Film lesen – das klingt nach Arbeit, bestenfalls nach akademischem Zeitvertreib. Filme erzählen sich, wie man meinen möchte, doch von selbst. Zumindest für jene, die über funktionierende Sinne und genug Verstand zum Erfassen grundlegendster Bedeutungszusammenhänge verfügen.

AutorIn: 
Robert Buchschwenter
Thema des Monats Teaser: 

Einen Film lesen – das klingt nach Arbeit, bestenfalls nach akademischem Zeitvertreib. Filme erzählen sich, wie man meinen möchte, doch von selbst. Zumindest für jene, die über funktionierende Sinne und genug Verstand zum Erfassen grundlegendster Bedeutungszusammenhänge verfügen.

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