Vom Comic zur Graphic Novel

In den letzten Jahren hat der Comic sein zweifelhaftes Image hinter sich gelassen und einen fulminanten Aufstieg erlebt. Unter dem neuen Begriff "Graphic Novel" emanzipierte er sich zur respektablen literarischen Gattung mit inhaltlich relevanten und künstlerisch wie erzählerisch vorzüglichen Produktionen. 

AutorIn: 
Christian Gasser


Bis vor kurzem verstanden die meisten Menschen unter dem Begriff "Comic" Figuren wie Superman, Fix und Foxi, Donald Duck und Asterix: Formelhafte Serien für Kinder von 7 bis 77 mit Hang zu Humor und eskapistischen Abenteuern. Das hat sich geändert. Unter dem neuen Gattungsbegriff "Graphic Novel" befreite sich der Comic aus der Schmuddelecke im Kinderzimmer und etablierte sich als zeitgemässe künstlerische Ausdrucksform mit hohem inhaltlichem und ästhetischem Potenzial. Einer der Gründe für diese Emanzipation: Zahlreiche Comic-Autoren entdeckten die Wirklichkeit als Thema: Der Holocaust und Hiroshima, das Aufwachsen im Iran der Ayatollahs und Reportagen aus dem Gazastreifen, autobiographische Alltags- und Lebensgeschichten, Essayistisches und literarisch anspruchsvolle Fiktionen – damit gewann der Comic viel Respekt und neue Leserschaften.

 

Bis heute fehlt allerdings eine verbindliche Definition von "Graphic Novel". Vereinfacht lässt sich dieser Begriff am besten so einkreisen: Eine "Graphic Novel" ist eine nicht-serielle, sondern abgeschlossene Geschichte mit einem gewissen inhaltlichen, erzählerischen und künstlerischen Anspruch, die sich vor allem an eine erwachsene Leserschaft wendet.

 

Mäuse und Masken

Comics für Erwachsene gibt es seit den Sechzigerjahren – die amerikanischen Underground-Comix etwa oder seit den Siebzigerjahren die "romands bd" (Comic-Romane) europäischer Autoren wie Jacques Tardi, Hugo Pratt, Enki Bilal und anderer. Und doch sorgte Art Spiegelman für besonders Aufsehen, als er 1978 mit der Arbeit an "Maus" begann, der Lebensgeschichte seiner polnisch-jüdischen Eltern im Dritten Reich. In diese dokumentarische Nähe zu einem dermassen schwierigen Thema hatte sich zuvor kein Comic-Autor getraut. Ein Comic über den Holocaust? In welchem die Juden als Mäuse, die Deutschen als Katzen und die Polen als Schweine gezeichnet wurden? Das Unterfangen schien vermessen, ja unmöglich. Als Art Spiegelman 1991 den abschliessenden zweiten Band von "Maus" vorlegte, hatte er jedoch bewiesen, dass der Comic in der Lage ist, jedes noch so schwierige und komplexe Thema adäquat zu verarbeiten.

 

Spiegelman wurde zum Vorbild aller, die sich zeitgeschichtlichen Themen zuwandten – am erfolgreichsten Marjane Satrapi, die in "Persepolis" ihr Aufwachsen im Iran der Ayatollahs schilderte. Aber auch Joe Saccos Reportagen aus dem Gazastreifen, übten einen grossen Einfluss aus, indem sie bewiesen, wie wirkungsvoll die Verbindung von gezeichnetem Bild und Text zur Vermittlung vielschichtiger Wirklichkeiten eingesetzt werden kann. 

 

Aber auch der fiktionale Comic erfuhr eine Ausdehnung seines Potenzials. Das erfolgreichste Beispiel ist Chris Wares autobiographisch grundiertes "Jimmy Corrigan". Auf 360 Seiten schildert Ware das erste Wochenende, das der 30jährige Büroangestellte Jimmy Corrigan mit seinem Vater, der Frau und Kind kurz nach dessen Geburt verlassen hatte, verbringt. Mit seinem verschachtelt erzählten und die Psychologie seiner Charaktere in ebenso klaren wie kühlen Bildern ausleuchtenden Roman hat Ware die Ausdrucksmöglichkeiten des Comics revolutioniert und dazu beigetragen, dass der Comic als literarische Gattung ernster genommen wird als je zuvor. 

 

Der deutschsprachige Sonderfall

Diesen Entwicklungen hinkte der traditionell comic-resistentere deutsche Sprachraum lange hinterher, obschon auch hier schon früh Verlage wie die Zürcher Edition Moderne (seit 1980!), Reprodukt (seit 1990) und später auch der Avant Verlag (seit 2000) anspruchsvolle Comics für Erwachsene veröffentlichten. Im Gegensatz zu den grossen Comic-Verlagen interessierten sich die unabhängigen auch früh schon für die einheimischen Szenen und scharten junge Talente um sich, die mittlerweile auch international anerkannt sind – Nicolas Mahler beispielsweise, oder Reinhard Kleist, Barbara Yelin, Ulli Lust, Mawil, Thomas Ott, Anke Feuchtenberger und viele mehr. 

 

Die Fülle an inhaltlich relevanten und künstlerisch wie erzählerisch vorzüglichen Comics, die nach 2000 erschienen sind, konnte selbst das deutsche Feuilleton nicht ignorieren, und die Graphic Novel wurde auch im deutschen Sprachraum zum Medienthema. Längst haben auch die etablierten Comic-Verlage wie Carlsen und Ehapa mit eigenen Graphic-Novel-Reihen mitgezogen, und auch Belletristik-Verlage wie Suhrkamp, Kiepenheuer & Witsch, Atrium, Eichborn und S. Fischer nehmen seit einigen Jahren Graphic Novels in ihr Programm auf. 

 

Urknall und Befreiung

Von Trends zu sprechen ist schwierig. Der Urknall liegt noch zu kurz zurück, noch steckt die Szene in der Phase der Befreiung, der Öffnung, des Aufbruchs und des Ausprobierens. Nachdem der Comic jahrzehntelang in die Kinder- und Schund-Ecke gesteckt und auf einige wenige Stereotypen reduziert wurde, ist nun endlich alles erlaubt – und alles wird ausprobiert – dementsprechend gross ist die Vielfalt. 

 

Tatsache ist aber, dass dokumentarische Comics nach wie vor boomen: Mit "Irmina" legte Barbara Yelin eine meisterhafte, an das Leben ihrer Grossmutter angelehnte Reflektion über Mitläufer und Opportunisten im Dritten Reich vor, während Mawil im schmissig erzählten "Kinderland" die letzten Wochen der DDR aus der Perspektive des 13jährigen Schülers, der er damals war, schildert. Mit "Boxer" lieferte Reinhard Kleist die mit dem deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnete Biographie des boxenden KZ-Häftlings Hertzko Haft vor, und Ulli Lusts schonungslos autobiographischer Road-Comic "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens" wurde in viele Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 

 

Das sind nur ein paar deutschsprachige Beispiele, die einen kleinen Bereich der gegenwärtigen internationalen Produktion abdecken. Der Comic steckt in einer sehr aufregenden Phase: Vom Superhelden bis zum Holocaust, von der Reportage bis zum Fantasy-Epos, von lustigen Tieren bis zu hochliterarischen Romanen, von philosophischen Essays bis zum exotischen Abenteuer, von Comics fürs Vorschul- bis zum Erwachsenenalter – der Comic kann und darf alles, und nichts und niemand setzt den Comic-AutorInnen noch Grenzen.

 

 

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