Michael Stavarič bloggt über Walt Disneys Vorbilder

Michael Stavarič erklärt, wieso er im Jänner immer an seine Kindheit in der Tschechoslowakei denken muss und dass die dortigen Kinder- und Jugendproduktionen Standards setzten, die auch Walt Disney inspirierten.

Mein neues Jahr, ergo auch der Jänner, beginnt traditionell mit einem Ereignis, das mich unweigerlich an meine Kindheit denken lässt, denn: Ich habe Geburtstag. Und ich bin einst in einer Welt aufgewachsen (immerhin bis zu meinem siebten Lebensjahr), in der Kinderbücher, Zeichentrickfilme und Märchen eine prägende Rolle spielten. Ja viel mehr noch, ich stamme aus einem Land, in dem Märchen-, Zeichentrick- und Fantasiewelten eine zentrale gesellschaftliche Stellung einnahmen. Der Einfluss der dortigen Produktionen (insbesondere jener der 1950er- und 1960er-Jahre) war maßgeblich für die Entwicklungen unterschiedlichster Genres auf der ganzen Welt. Oder wussten Sie etwa, werte Leserinnen und Leser, dass sich Walt Disney an den in der Tschechoslowakei gesetzten Standards orientierte?

 

Ich erinnere mich im Jänner gerne daran, was ich als Kind für Bücher las und welche Produktionen mich begeisterten – und plädiere ohnedies schon seit Langem für eine grundsätzliche Aufwertung der Kinder- und Jugendliteratur, die viele Kollegen und Journalisten bestenfalls belächeln. Und ja doch, im Januar denke ich ebenfalls daran, wie viele schlechte Bücher wohl (also auch Kinder- und Jugendbücher) in diesem noch so jungen Jahr erscheinen werden. Und ich komm' nicht umhin anzumerken: "Traditionell" sind es wirklich viele ... Ich halte – eigentlich bin ich selbst etwas schockiert darüber – gut und gern 70 Prozent der gesamten neuen deutschsprachigen Buchproduktion für absolut entbehrlich. Im Übrigen gilt dies ebenfalls für Film, Fernsehen und sonstige Kunst.

 

Aber zurück zur tschechoslowakischen Kinder- und Jugendbranche, denn genau darüber will ich – pars pro toto – hier sprechen. Wussten Sie, dass der tschechoslowakische Kinderfilm über eine ähnlich große Genrevielfalt verfügte wie Produktionen für Erwachsene? Es lag daran, dass zwischen Werken für Erwachsene und solchen für Kinder kein gradueller Unterschied gemacht wurde. Weder seitens der Autoren, Regisseure und Schauspieler, noch auf ästhetischem, künstlerischem oder finanziellem Niveau. Wesentlich war stets, dass eine kindgemäße Verniedlichung, Zuordnung (Altersstufen) und Simplifizierung (Komplexität) abgelehnt wurde. Ich halte das auch heute für eine Grundbedingung, um gute Kinder- und Jugendwerke zu veröffentlichen.

 

Einer der bekanntesten Kinderbuchautoren und Filmschaffenden in der Tschechoslowakei, Ota Hofman, hielt einmal fest: "Die Spezifik des Kinderfilms darf nicht als Ausrede für Dilettantismus oder Unfähigkeit dienen. Es gibt nur eine Kunst. Und wenn ein Kinderfilm nicht auch die Erwachsenen bezaubert, dann war es ein schlechter Film." Vielleicht erinnern Sie sich ja nicht mehr an den Namen Ota Hofman, möglicherweise kennen Sie allerdings noch eine seiner "Erfindungen", sie hieß "Pan Tau".

 

Diese Serie ist insofern ein gutes Beispiel, da sie unterschiedlichste Genre- und Realitätsebenen vermischt, gewissermaßen ein weiteres Charakteristikum für – in meinen Augen – gute  Produktionen. Sie ist Filmkomödie, zugleich aber fantastischer Kinder- bzw. Märchenfilm, ja in seiner ersten Folge taucht Pan Tau sogar als animierte Trickfigur auf ... das Fantastische, das Komische und das Groteske werden eins. Und apropos „Animation“: Zu den großartigen Pionieren diesbezüglich zählt auch Jiri Trnka, der hauptsächlich mit Puppen arbeitete und dessen Filmstudio legendär war. Meines Erachtens sind seine Arbeiten wirkliche Meilensteine in der Entwicklung des Kindergenres, seine Trickfilme "SS Adolf Hitler" und "Die kybernetische Großmutter" muss man einfach gesehen haben.

 

Ich erinnere mich im Jänner auch gerne an die Werke von Karel Zeman – mag sein, weil ich als Kind allerlei Urzeitwesen liebte. Zu seinen bekanntesten Produktionen zählt der Film "Reise in die Urzeit" (aus dem Jahr 1955), in dem er reale, von Schauspielern gespielte Szenen mit Trickfilmsequenzen verband. Dies war für damalige Verhältnisse eine echte Innovation, und der Film wurde im Jahr seiner Veröffentlichung bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig auch als bester Kinderfilm ausgezeichnet. Und – wenn Sie so wollen – er ist der Vorreiter aller modernen Dinosaurier-Filme: Sie erinnern sich gewiss noch an "Jurassic Park" von Steven Spielberg; wenn Sie sehen wollen, wo sich der Meisterregisseur seine Inspiration holte, nun, es steht Ihnen frei.

 

Allerdings war es vor allem Walt Disney, der sich stark an den tschechoslowakischen Entwicklungen orientierte. Er übernahm ganze Märchenstoffe, Motive und Figuren, die er umformte und ergänzte, um sie einem vermeintlichen Zeitgeschmack anzupassen. Aus dem tschechoslowakischen Erzähluniversum transferierte er ländliche Idyllen, die fantastisch-surrealen bzw. nostalgischen Darstellungen der Technik, er ließ sich auf Hauptfiguren ein, denen nunmehr komisch-ironische Charaktere zur Seite gestellt wurden etc. Während bei Disney stets die "Verniedlichung" und Kommerzialisierung eine Rolle spielte, hielten die tschechoslowakischen Produktionen an ihrem Credo fest: Unterhaltung und zugleich Konfliktthematisierung für Kinder und Erwachsene – ohne eine Anbiederung an irgendeinen Markt.

 

Würden Sie mich also fragen, warum ich 70 Prozent der gesamten deutschsprachigen Kulturproduktion für absolut entbehrlich halte und ich hätte nur ein Wort zur Verfügung, um Ihnen darauf zu antworten, nun, dieses Wort würde "Anbiederung" lauten.

 

In diesem Sinne – und im Jänner wird man sich ja wohl noch etwas wünschen dürfen: Ich freue mich auf Bücher und Produktionen, die dies nicht tun. Und der Kinder- und Jugendliteratur wünsche ich Autorinnen und Autoren, die keinem pädagogischen Dogma folgen, die Kinder und Jugendliche möglichst früh für anspruchsvolle Lektüren begeistern. Und sollte ich in diesem Jahr noch irgendwo den Satz hören: "Nein, das kannst du nicht machen, ein Kind versteht das nicht", werde ich besagter Person wirklich etwas "geigen".

Gastblogger/in

(c) Michael Stavarič
(c) Michael Stavarič

Michael Stavarič wurde 1972 in Brno geboren und emigrierte als Siebenjähriger mit seinen Eltern nach Österreich. Er studierte an der Universität Wien Bohemistik und Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Nach dem Studium war er im diplomatischen Dienst mit diversen Tätigkeiten betraut. Lebt als freier Schriftsteller und Übersetzer in Wien.

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