Am Ende des 20. Jahrhunderts etablierte sich der Kriminalroman endgültig in den Programmen anspruchsvoller literarischer Verlage des deutschsprachigen Raums, nicht nur im Zürcher Haus Diogenes, der bis dahin etwa Patricia Highsmith und Friedrich Dürrenmatt betreut hatte. Denn im Jahr 1998 brachte der Wiener Paul Zsolnay Verlag, Teil der Gruppe des renommierten Münchner Literaturverlags Carl Hanser, Henning Mankells Roman „Die fünfte Frau“ heraus. Es war der Beginn der Welle so genannter Schwedenkrimis.

 

Der große Erfolg lässt sich auf die Mischung dramaturgisch gekonnt eingesetzter Spannungselemente und psychologisch grundierter Gesellschaftskritik zurückführen, eine Mélange, die eine Generation zuvor schon für die zehnbändige Kommissar Beck-Reihe (1965–1975) von Per Wahlöö und Maj Sjöwall galt. Kurz vor der Jahrtausendwende war die Zeit reif für eine umfassende Durchsetzung des bis dahin noch immer als trivial angesehenen Spannungssegments – die ersten zwei Wallander-Krimis waren noch Anfang der 1990er Jahre gänzlich unbemerkt in einem Berliner Kleinverlag erschienen.

 

Erfolgreiche schwedische Nachfolger des Zyklus sind, abgesehen von Stieg Larsson, der von der auf zehn Bände projektierten „Millenium“-Reihe nur drei fertig stellen konnte, die zu globalen Bestsellern avancierten, die Autorinnen Camilla Läckberg, Vivica Sten, Åsa Larsson und Liza Marklund sowie Håkan Nesser, Arne Dahl, jüngst Lars Kepler und das Duo Michael Hjorth & Hans Rosenfeldt.

 

Andere nordische Autoren landen mit ihren Bänden regelmäßig auf den vordersten Plätzen der Bestsellerlisten: der Norweger Jo Nesbø mit der Harry Hole-Reihe sowie der Däne Jussi Adler-Olsen mit seinen Romanen um Kommissar Carl Mørck.

 

Internationale Tendenzen

Auch andere renommierte Literaturverlage haben das Segment des Kriminalromans als wichtigen Wirtschaftsfaktor entdeckt, so etwa der Suhrkamp Verlag, dessen erfolgreichster Autor der letzten Jahre Don Winslow mit seinen im südkalifornischen Surfer- und Drogenmafiamilieu spielenden Büchern gewesen ist.

 

Mittlerweile ist das Spektrum an Kriminal- und Spannungsromanen thematisch, stilistisch und das Ausmaß an Gewaltschilderungen betreffend sehr breit gefächert. Es reicht von Neo-Noir Crime (Ken Bruen, Warren Ellis) bis zu Retro-Krimis à la Agatha Christie und Arthur Conan Doyle (Alexander McCall Smith, Jacqueline Winspear, Anthony Horowitz), manchmal ergänzt durch nuancierte Psychologie (Ruth Rendell, die auch als „Barbara Vine“ veröffentlicht, Val McDermid, Elizabeth George). Es gibt Kriminalromane, in denen Tiere Ermittlerrollen übernehmen, von Katzen und Schweinen bis zu Schafen und einer Wanze (Paul Shipton, „Die Wanze. Ein Insektenkrimi“, 2000). Es gibt Spannungsromane, die in der jüngeren Zeithistorie angesiedelt sind (Philipp Kerrs „Bernard-Gunther“-Serie und Volker Kutschers Bücher um Kommissar Gereon Rath, beide in den 1930er und 1940er Jahren in Berlin situiert), Spannungsromane in der Nachfolge des Katalanen Manuel Vázquez Montálban (1939–2003), in deren Mittelpunkt gastronomische Genüsse stehen (Tom Hillenbrand, Carsten Sebastian Henn), sowie Thriller, die gesellschaftliche Missstände aufgreifen (John Le Carré, „Der ewige Gärtner“, 2001). Letzteres ist, betrachtet man die Romane Dominique Manottis und des Autors mit dem Pseudonym DOA, eine französische Spezialität (Dominique Manotti/DOA, „Die ehrenwerte Gesellschaft“, 2012). (1)

 

Neue Punkte auf der Mörder-Landkarte

Auf der literaturkriminalistischen Landkarte sind seit den 1990er Jahren Länder und Regionen aufgetaucht, die bis dato diesbezüglich recht unverdächtig waren.

 

Ian Rankin löste mit seinen in Edinburgh angesiedelten Büchern um Inspector John Rebus ein Interesse für Schottland aus. Spannungsbücher seiner Landsleute Tony Black, Denise Mina und Christopher Brookmyre sind mittlerweile auch auf Deutsch erfolgreich.

 

Bruce McGilloway, vor allem Adrian McKinty („Der katholische Bulle“, 2013) und Sam Millar („Die Bestie von Belfast“, 2013) präsentieren Nordirland als Handlungsort, Roger Smith und Deon Meyer siedeln ihre Bücher in ihrer Heimat Südafrika an. Der Berliner Kritiker Thomas Wörtche verantwortete von 1999 bis 2007 im Schweizer Unionsverlag die Reihe „metro“, die sich Kriminalistischem aus exotischen Regionen annahm, beispielsweise aus Istanbul, Angola, Kuba, Hongkong, Las Vegas oder Vietnam (seit 2013 gibt Wörtche die Krimireihe „Penser Pulp“ im Diaphanes Verlag heraus). (2)

 

Für Thriller aus den USA sind zwei größere Strömungen auszumachen.

 

Einerseits gibt es Autoren, die in Spannungsromanen Konspirationen zumeist globalen Maßstabes schildern und diese von US-Elitesoldaten oder Angehörigen der Geheimdienste erfolgreich abschmettern lassen (Tom Clancy, Brad Meltzer, Matthew Reilly, David Baldacci; Lee Child und das Duo Douglas Preston und Lincoln Child variieren in ihren Romanen mit Aloysius Pendergast beziehungsweise Jack Reacher das Muster teils ironisch unterfüttert).

 

Zum anderen haben sich Autorinnen und Autoren dem Genre des Polizeiromans zugewandt und, nach den revierorientierten Büchern Ed McBains, gebrochene Charaktere eingeführt, die in unterschiedlichen Milieus und Regionen ermitteln, zwischen Los Angeles (Michael Connellys Harry Bosch), Minnesota (John Sandfords Lucas Davenport und Virgil Flowers), Louisiana (James Lee Burkes David Robicheaux) und New York (Jeffery Deaver und seine Hauptfiguren Lincoln Rhyme, der vom Hals abwärts gelähmt ist, und Amelia Sachs).

 

Regionalisierung

Ein seit einigen Jahren immer stärkerer Trend innerhalb der deutschsprachigen Kriminalliteratur ist die Regionalisierung (inzwischen haben deutschsprachige Fernsehanstalten mit mehreren Serien nachgezogen).

 

So gibt es in Deutschland zwischen dem Schwarzwald und Sylt, zwischen dem Allgäu und der Ostsee keine Region und kaum eine größere Stadt, in denen kein Kriminalroman oder eine ganze Serie angesiedelt ist. Mehrere regional ausgerichtete Verlage bedienen erfolgreich dieses Segment, beispielsweise Gmeiner in Meßkirch, oder Emons in Köln. (3)

Gleiches gilt, in kleinerem Maßstab, für die Schweiz. Viel stärker aber, dank Verlagen wie Haymon in Innsbruck oder Folio und Czernin in Wien, für Österreich.

 

Städte und Regionen wie das Mühlviertel (Friedrich Karl Altmann), Kitzbühel (Georg Haderer), Graz (Robert Preis), Altaussee (Herbert Dutzler) oder ausgewählte Grätzel der Bundeshauptstadt in Gegenwart (u. a. Eva Rossmann, Manfred Rebhandl, Christian David und Stefan Slupetzky) und Vergangenheit (Gerhard Loibelsberger, Edith Kneifl) sind kriminalistisch ausgeleuchtet worden. Alle Bundesländer, vom Burgenland (Beate Lessler-Raute) bis Salzburg (Ursula Poznanski), Tirol (Bernhard Aichner) und Vorarlberg (Christian Mähr, Kurt Bracharz) sind kriminalliterarisch inzwischen aktenkundig.

 

Eine Besonderheit des österreichischen Kriminalromans ist dabei der gängige Genrekonventionen sprengende kunstvoll literarische Umgang mit Sprache, so etwa bei Heinrich Steinfest (4), Thomas Raab, Wolf Haas, Manfred Rebhandl und Alfred Komarek, (5) weswegen der österreichische Kriminalroman medial gern als „schräg“ eingestuft wird. (6)

 

Anmerkungen:

(1) Thomas Wörtche: Das Mörderische neben dem Leben. Ein Wegbegleiter durch die Welt der Kriminallliteratur, Libelle Verlag, Lengwil 2008; Klaus-Peter Walter (Hg.): Reclams Krimi-Lexikon. Autoren und Werke. Stuttgart 2002; Jochen Schmidt: Gangster, Opfer, Detektive. Eine Typengeschichte des Kriminalromans. Berlin 1989.

(2) Diaphanes Verlag

(3) Alexander Kluy: Schlachtplatte nach Bauernart. Mord vor der eigenen Haustür: Der literarische Nervenkitzel aus der Provinz boomt. In: Rheinischer Merkur (Bonn), 15. Februar 2007.

(4) Alexander Kluy: Schräge Wunder. Der Krimiautor Heinrich Steinfest im Porträt. In: Buchkultur, H. 113, 2007.

(5) Michael Rohrwasser: Schwermütige Detektive. Der österreichische Kriminalroman ist mittlerweile ein eigenständiges Genre, das sich von den Krimis anderer Länder markant unterscheidet. In: Wiener Zeitung, 17. August 2007.

(6) Alexander Kluy: Im detektivischen Halbschlaf. Ausgefallene, schräge Kriminalromane: In kaum einem anderen Genre wird derzeit so wild-wundersam experimentiert, geschüttelt und gerührt. In: Bücherpick (Zürich), Herbst-Heft, 22. Oktober 2009.

Kriminalromane und Thriller sind in den letzten Jahren für den Buchhandel wie für Bibliotheken ein immer wichtigerer Faktor geworden. Dieses Genre hat mittlerweile den Ruch reiner Unterhaltungsliteratur weitgehend abgeschüttelt.

AutorIn: 
Alexander Kluy

Das Audiobuch, weit mehr als nur puristische Vorlesung, ist mittlerweile nicht nur bei AutofahrerInnen gefragt oder bei Menschen, deren Sehkraft eingeschränkt ist. Das mag unter anderem daran liegen, dass das Audiobuch heute ein breites Spektrum an Genres umfasst: Kriminal- und Spannungsroman zählen ebenso dazu wie anspruchsvolle Belletristik und Lyrik, beispielsweise Aufnahmen der Literaturnobelpreisträger T. S. Eliot („The Waste Land und weitere Gedichte“, 2013) und Tomas Tranströmer („Die Erinnerungen sehen mich an“, 2011). Auch Ratgeber wie Features und Reportagen über kulturelle, bio- oder geografische Themen – worauf sich Verlage wie Headroom mit den Reihen „Abenteuer & Wissen“ und „Abenteuer der Erde“, Silberfuchs mit Länderporträts oder geophon mit Reiseberichten spezialisiert haben – oder gesellschaftspolitische Themen sind als Audiobooks auf dem Markt. Hier ist etwa Christian Lerchs preisgekröntes Feature „Verkauft! Wie Ayub, Akhdar, Ahmed und Abu Bakr im Gefangenenlager Guantánomo Bay landeten“ zu nennen, eine Produktion der Sender ORF, SWR und WDR, die 2010 als Hörbuch im Christoph Merian Verlag erschienen ist.

 

Vorgeschichte: Hörspiel

Seltener im Programm sind Hörspiele. Dabei stellen sie ja im Grunde die Keimzelle des Audiobooks dar. Erstmals wurde 1924 ein Hörspiel ausgestrahlt, sieben Jahre später entwickelte die Library of Congress in Washington DC mit der American Foundation for the Blind, einer Blindenstiftung, ein erstes akustisches Lesesystem für Blinde. 1954 wurde die Deutsche Blindenstudienanstalt gegründet, die auf Magnetband oder Schallplatte gesprochene „Hörbücher“ versandte, es folgte die Tonbandkassette, die in den 1990er Jahren endgültig von der CD abgelöst wurde. Seit dem Jahr 2000 ist das Hörbuch ein wichtiger Faktor im Buchhandel wie in Bibliotheken, und es ist kein Zufall, dass im Jahr 2003 erstmals der Deutsche Hörbuchpreis in sieben Kategorien vergeben wurde. Tonfall, lebendige Intonation, abwechslungsreiche Sprach-, Satz- und Dialoggestaltung, Akzentuierung, dazu das Beherrschen unterschiedlicher Dialekte, Ausdrucks- und Sprachebenen: Das macht das Hörbuch so gefragt, beliebt und lebendig. (1)

 

Ergänzung und Bereicherung

Durch die Verbindung mit Musik, Klängen oder Soundscapes entsteht etwas, das nicht unmittelbar, so wie das Taschenbuch, mit der gedruckten Vorlage in Konkurrenz tritt. Sondern es ergänzt oder an- und bereichert unter Umständen wesentlich, denkt man etwa an die Hörbücher mit Miniaturen des französischen Botanikers Jean-Henri Fabre („Die gelbflügelige Grabwespe“, „Die schwarzbäuchige Tarantel“, „Der heilige Pillendreher“), die Gert Heidenreich einlas und dabei mit dem Musiker Robert Rehnig einen Partner fand, dessen elektronische Kompositionen den Text verstärken und zugleich kontrastieren.

 

Der Hörbuch-Markt und seine SprecherInnen

Mittlerweile erscheint das Hörbuch mancher Neuerscheinung zeitgleich zum gedruckten Buch, ist also ein finanziell wichtiges, begehrtes und gefragtes Nebenrecht. Von 2012 auf 2013 stieg der Verkauf von Hörbüchern um 3,9 Prozent. 13,5 Millionen Exemplare wurden im selben Jahr verkauft. Der Umsatzanteil des Hörbuchs am Gesamtbuchmarkt macht 4,2 Prozent aus, ein Plus von 0,2 Prozent. (2)

 

Andererseits ist das Segment der Anbieter in den letzten Jahren überschaubarer geworden. Fünf Verlage, im Besitz oder im Vertrieb großer Verlage – Der Hörverlag, Lübbe Audio, Argon, Random House Audio und Hörbuch Hamburg –, decken inzwischen 40 Prozent des Umsatzes ab. Streaming via Internet ist noch keine direkte Bedrohung des Trägers CD, dürfte allerdings in den nächsten Jahren merklich zunehmen. (3)

 

Prominente Stimmen

Eine weitere Entwicklung ist, dass bei vielen Hörbuchproduktionen inzwischen auf medial bekannte Sprecherinnen und Sprecher zurückgegriffen wird. So ist der aus zahlreichen Fernsehfilmen bekannte Schauspieler Jan-Josef Liefers ein ebenso gefragter Einleser wie es (auf ganz andere Art und Weise) Harry Rowohlt, Matthias Koeberlin, Ulrich Matthes oder Andrea Sawatzki, Peter Matić, Wolfram Berger („Die Großherzogin von Gerolstein“) und Erwin Steinhauer sind. Oder, geht es um Wilhelm Busch und Joachim Ringelnatz, Katharina Thalbach, die 2014 in der Kategorie Sonderpreis des Deutschen Hörbuchpreises für ihr Lebenswerk geehrt wurde (4), sowie im komödiantischen Unterhaltungsbereich Christoph Maria Herbst („Stromberg“). Axel Milberg, Darsteller eines Kommissars in der Kriminalreihe „Tatort“, hat sich auch im Akustikbereich auf Kriminalistisches spezialisiert. Er ist die Stimme der Bücher Henning Mankells und 2014 des Thrillers „Die Wahrheit und andere Lügen“ des Deutschen Sascha Arango, welcher wiederum mehrere Drehbücher für den „Tatort“ geschrieben hat.

 

Der Berliner Christian Brückner gründete gar im Jahr 2000 mit seiner Frau Waltraud, die Regie bei den Produktionen führt, einen eigenen Hörbuchverlag, in dem er alle Aufnahmen selbst einspricht. Dieses inzwischen mit mehreren Preisen ausgezeichnete akustische Signum garantiert, dass in seinem Programm Parlando anspruchsvolle Titel und als schwierig geltende Klassiker der Literaturgeschichte (Friedrich Hölderlin, Jean Paul) wahrgenommen werden – Hölderlins „Hyperion“ trug Brückner beispielsweise Ende Mai 2011 im Hölderlinturm zu Tübingen an zwei Tagen in vier Sitzungen vor Publikum vollständig vor (der Mitschnitt erschien 2012). Andere wie Rufus Beck, der die Harry Potter-Romane einlas, Laura Maire oder Jens Wawrczeck konzentrieren sich fast ausschließlich auf akustische Einspielungen, die sie manchmal – so wie jüngst Wawrczeck mit „drei“, einer Kombination dreier Schauer- und Todesgeschichten – um Songs ergänzen. „Bedrucktes Papier“, so Christian Brückner in einem Interview, „kriegt eine neue Physis.“ (5)

 

Von Robert Musil bis James Joyce

In Kooperation mit Rundfunkanstalten entstanden in den letzten Jahren außerdem vielköpfig besetzte Einspielungen von Monumentalwerken wie Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, gelesen von Wolfram Berger, Klaus Buhlerts Adaption von James Joyces „Ulysses“ – mit 270 Studiotagen die bisher aufwändigste Hörspielproduktion in deutscher Sprache überhaupt – und Elias Canettis „Die Blendung“, bei denen Erstausstrahlung via Radio und anschließende Publizität im Buchhandel sich wechselseitig befördern.

 

Anmerkungen:

(1) Vgl. Natalie Binczek, Cornelia Epping-Jäger (Hg.): Literatur und Hörbuch (Text + Kritik 196). Verlag Edition Text + Kritik, München 2012.

(2) Vgl. http://www.boersenblatt.net/646292/template/bb_tpl_thema_artikel/

(3) Vgl. http://www.boersenverein.de/de/158256

(4) Weitere Informationen auf: http://www.deutscher-hoerbuchpreis.de

(5) http://www.buchmarkt.de/content/41343-das-sonntagsgespraech.htm

 

Das Hörbuch ist aus der Gegenwartsliteratur nicht mehr wegzudenken und schon seit längerem nicht zu überhören. Und auf den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt am Main nicht zu übersehen – werden ihm doch dort regelmäßig ganze Hallen gewidmet.

AutorIn: 
Alexander Kluy
Thema des Monats Teaser: 

Das Hörbuch ist aus der Gegenwartsliteratur nicht mehr wegzudenken und schon seit längerem nicht zu überhören. Und auf den Buchmessen nicht zu übersehen – werden ihm doch dort regelmäßig ganze Hallen gewidmet.

Wenn vom „klassischen Bilderbuchlesealter“ die Rede ist, sind damit oftmals Bilderbücher für drei- bis sechsjährige Kinder gemeint, die sich thematisch mit den unterschiedlichsten Frage- und Problemstellungen aus dem Alltag dieser Altersgruppe befassen. Bilderbücher sollen (und können) Kindern ein Stück Leben erklären und sie dabei bestmöglich auf die Schule vorbereiten. Mit Aussagen und Überlegungen dieser Art wird jedoch viel zu kurz gegriffen: denn das breite Feld der für das „klassische Vorlesealter“ konzipierten Bücher stellt sich weit größeren Herausforderungen als ausschließlich didaktischen Lösungsvorschlägen.

 

Themenbilderbücher: Identifikation in Wort und Bild

Als zusammenfassende Bezeichnung für die im Folgenden dargestellten Bilderbücher soll vorerst trotzdem der vordergründig auf didaktischen Überlegungen basierende Begriff der Themenbilderbücher stehen: „Ab drei Jahren können Kinder zunehmend differenziert Gefühle wahrnehmen und auch mit abstrakten Begriffen wie Spaß, Angst, Glück, Verlust, Liebe, Schreck etwas anfangen. Dafür eignen sich klassische Themenbilderbücher" (1), welche sich Thematiken des kindlichen und familiären Alltages widmen. Kinder beginnen sich darüber hinaus „mit den Helden der Geschichte zu identifizieren, sie erkennen Handlungsmuster aus ihrem Alltag wieder“ (2) und sind daher mit großer Intensität in den Vor- und Bildleseprozess involviert. Dabei kommt dem Lesen von Bildern – oftmals während des gleichzeitigen Vorlesens – besondere Bedeutung zu. In den Illustrationen werden häufig Details hervorgehoben, weitere Handlungsebenen ergänzt oder auch ganz neue Geschichten erzählt. Bild und Text können sehr stark voneinander abweichen, weitgehend parallel verlaufen oder sich gegenseitig ergänzen.

 

Bild-Text-Interdependenz: Verknüpfung von Wort und Bild

Der Bilderbuchexperte Jens Thiele hat die unterschiedlichen Verknüpfungsmöglichkeiten beider Ebenen in seinen Ausführungen über das Bilderbuch aufgefächert. Er spricht von Bild-Text-Interdependenzen (3) und meint damit das Verhältnis von Illustration und Text, welche miteinander ein künstlerisches Spiel eingehen, um gemeinsam eine Geschichte zu erzählen.

 

Darin liegt die herausragende Besonderheit des Genres „Bilderbuch“: im Miteinander, Nebeneinander oder auch Gegeneinander von Bild und Text. Valerie aus Mira Lobes und Winfried Opgenoorths Einschlafklassiker „Valerie und die Gute-Nacht-Schaukel“ darf im gereimten Text kräftig am Steuer eines Segelschiffes drehen, während sich drüben in der Hängematte der alte Käpt’n Klaus reckt und streckt und ausruht. (4) Vom Rest der Besatzung sowie all den Vögeln, Fischen und den anderen Tieren auf dem Schiff und in den schäumenden Wellen des umgebenden Ozeans ist keine Rede. – Hier lässt die Textebene der Bildebene breiten Interpretations- und Handlungsspielraum. Die großflächigen Illustrationen erzählen weit mehr als die Reime, gemeinsam entfalten sie Seite für Seite Valeries kindliche Phantasiewelt. Im Kontrast zur detailreichen, aufgeweckten Reise mit der Gute-Nacht-Schaukel erzählt Komako Sakai in „Hannas Nacht“ eine sehr ruhige, schlichte Nacht-Geschichte. (5) Die Illustrationen sind Stimmungsbilder, die zumeist die Aussagen des Textes visualisieren. Den geradlinig-erklärenden Sätzen verleihen sie zudem einen poetischen Ton. Ähnlich wie in Valeries Geschichte bleibt auch in Hannas nächtlichem Erkundungsgang durch die nur spärlich beleuchteten Räume ihres Elternhauses die Erwachsenenwelt fast ausschließlich außen vor.

 

Vorlesen: Reflexion in Wort und Bild

Beide Bilderbücher bieten Identifikationsfiguren, mit deren Hilfe sich (vorlesende) Erwachsene und Kinder gleichermaßen und miteinander in kindliche Erfahrungswelten vertiefen können. Die den Themenbilderbüchern immanente Darstellung (und damit einher gehende intensive Reflexion) differenzierter Emotionen wird dabei vordergründig durch die künstlerische Verwobenheit von Bild- und Textebene ermöglicht.

 

Anmerkungen:

(1) Nicola Bardola /Stefan Hauck/Mladen Jandrlic/Susanna Wengeler: Mit Bilderbüchern wächst man besser. Stuttgart: Thienemann 2009. S. 15.
(2) Nicola Bardola u. a.: Mit Bilderbüchern wächst man besser. S. 15.
(3) Siehe dazu: Jens Thiele: Jens Thiele: Das Bilderbuch. Ästhetik, Theorie, Analyse, Didaktik, Rezeption. 2. erw. Aufl. Bremen: Universitätsverlag Aschenbeck & Isensee 2003. S. 42–87.
(4) Vgl.: Mira Lobe/Winfried Opgenoorth: Valerie und die Gute-Nacht-Schaukel. Wien: Jungbrunnen 1981. [Ohne Paginierung]
(5) Vgl. Komako Sakai: Hannas Nacht. Aus dem Jap. v. Ursula Gräfe. Frankfurt am Main: Moritz 2013.

 

Literatur:

  • Katrin Feiner: Bilderbuch. Wien: STUBE 2012 [Heidi Lexe (Hg.)/Kathrin Wexberg (Hg.): Reihe Spektrum, Fernkurs Kinder- und Jugendliteratur der Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur, Wien].

Bilderbücher tragen zwei Ebenen in sich: eine Bild- und eine Textebene. Gemeinsam erzählen diese beiden Komponenten komplexe Geschichten für Kinder im Kindergartenalter (und darüber hinaus).

AutorIn: 
Andrea Kromoser

Seit rund 250 Jahren gibt es den Roman neuzeitlicher Prägung, den epischen Zyklus (in Novellen- oder Erzählfortsetzung) gar noch länger – bekannteste Beispiele: Giovanni Boccaccios „Decamerone“ oder „Tausendundeine Nacht“. (1) Mitte des 19. Jahrhunderts war die erzählende Langprosa endgültig zum beliebtesten literarischen Genre geworden.

 

Dabei maßgeblich mitgewirkt hat die grundlegende Eigenschaft des ausholenden Erzählens: seine Funktion als Instrument der Erkenntnis und des Welt-Erkennens, das Überführen von Wirklichkeit in Sprache. Und durch Sprache erstanden wiederum neue Welten. Auch ganz neue Roman-Welten.

 

Roman-Welten und Welten-Bauer

AutorInnen wie Balzac und Dickens, Tolstoj und Dostojewski, die Geschwister Brontë und Jane Austen, Theodor Fontane und Alessandro Manzoni schufen vielfältige, komplexe und beeindruckende Roman-Welten, schilderten Gesellschaften, Konstellationen und Gefühlslagen in Umbruch, Veränderung und Stillstand. Aber schon bei Gustave Flaubert und Herman Melville wurde sowohl die Welt brüchig und fragil, als auch die Welt des Romans und Romanschreibens. Und mit Thomas Mann, dann bei Marcel Proust war der Roman ein Instrument der Vermessung von Verlusten, der anhaltenden Suche nach der angehaltenen verlorenen Zeit. Womit auch die Roman-Zeit gemeint war.

Seit der Hoch-Zeit der Moderne, von Kafka, Joyce, Faulkner und Woolf bis zu Gadda, Gombrowicz, Nabokov und den Einzelgängern Bohumil Hrabal und Arno Schmidt, sind die Genrevorschriften und die Grenzen des Romans aufgeweicht. (2)

 

So gab und gibt es den eher essayistischen Roman in der Nachfolge von Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ und Hermann Brochs „Die Schlafwandler“ (Milan Kundera, „Die Unsterblichkeit“), es gibt Romane mit einer sehr kleinen Schar an auftretendem Personal, etwa bei Samuel Beckett oder den Franzosen Emmanuel Bove und Jean-Philippe Toussaint („Das Badezimmer“, 2004). Romane können als rhetorisch-musikalische Monologe angelegt sein (Thomas Bernhard, Gert Jonke) oder als Zwiegespräche (beim Schweizer Gerhard Meier). Sie können bewusst mit trivialen Elementen der Abenteuer-, Science Fiction- und Kriminalliteratur spielen (z. B. Georg Klein, „Die Zukunft des Mars“, 2013; Ilja Trojanow, „EisTau“, 2011). Ja, es gibt sogar das Genre des Kurzromans, der keine 100 Buchseiten zählt.

 

Und dezidiert literarische historische Romane können ihre Urheberinnen und Urheber, etwa Daniel Kehlmann oder die Engländerin Hilary Mantel, über den Zirkel der an rein unterhaltsamen historischen Fiktionen Interessierten hinaus weithin bekannt und zu BestsellerautorInnen machen.

 

Aber auch der monumental ausgreifende, als Jahrhundert-Panorama daherkommende Roman, in der Nachfolge eines Heimito von Doderer, Günter Grass, Albert Paris Gütersloh oder Alexander Solschenizyn, ist jüngst wieder gepflegt worden, so vom Ungarn Péter Nádas mit „Parallelgeschichten“ (2012) oder vom Amerikaner William T. Vollmann mit „Europe Central“ (2013), aber auch in Österreich. Wilhelm Pevny hat mit „Palmenland“ (2008) und „Die Erschaffung der Gefühle“ (2013) ambitionierte Projekte vorgelegt, und Robert Schindel 2013 mit dem sich auf ein Jahr konzentrierenden Roman „Der Kalte“ einen multiperspektivischen Roman geschrieben, in dem das Erzähler-Ich vielstimmig aufgespalten ist.

 

Familie und Selbstfindung

Nach der Ära der Postmoderne mit ihren formalen Experimenten (Georges Perec, Raymond Federman, John Barth) und des Abebbens des so genannten magischen Realismus südamerikanischer Autorinnen und Autoren (Gabriel García Marquez, Carlos Fuentes) Anfang der 1990er Jahre hat ab dem Jahr 2000, mit Jonathan Franzens Roman „Die Korrekturen“, der Familienroman eine neue starke Blüte erfahren. Dabei liegt der Akzent in der Nachfolge von John Updike und John Cheever auf der tiefenrealistischen, manchmal satirischen Wiedergabe zwischenmenschlicher Beziehungen. Arno Geigers „Es geht uns gut“ wurde 2005 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

 

Beliebt derzeit unter jüngeren Schreibenden ist auch das Motiv der befristeten Rückkehr in das einstige Elternhaus oder in die Stadt oder Region von Kindheit und Jugend, wobei Geheimnisse oder Verschwiegenes der Familienhistorie in unterschiedlicher Weise wie formaler Gestaltung zum Vorschein kommen. (Larissa Böhning, „Lichte Stoffe“, 2007; Sibylle Lewitscharoff, „Apostoloff“, 2009; Martin Becker, „Der Rest der Nacht“, 2014)

Andererseits ist das Thema des Aufwachsens und der Selbstfindung, von Kindheit und Jugend und Freundschaft, Schule und Internat, in erstaunlich vielen Romanen vornehmlich jüngerer und junger Autorinnen und Autoren zu finden, bei Cornelia Travnicek („Chucks“, 2012), Katharina Tiwald („Die Wahrheit ist ein Heer“, 2012) Christoph Peters („Wir in Kahlenbeck“, 2012), Nina Bußmann („Große Ferien“, 2012), Judith Schalansky („Der Hals der Giraffe“, 2012), in Jan Brandts „Gegen die Welt“ (2012) oder bei Elke Laznia („Kindheitswald“, 2014).

 

Querschnitte und Gefühle im Transit

In jüngster Zeit hat sich zum Familien- und Generationenroman der Querschnitt-Roman eines Hauses oder einer Straße zumeist in einer kosmopolitischen Metropole gesellt (Monica Ali, „Brick Lane“, 2004; John Lanchester, „Kapital“, 2013; Zadie Smith, „London NW“, 2014). Eine regionale Spielart ist zum Beispiel Helmuth Schönauers „Der Mitterweg ist ausweglos“ (2013).

 

Ein Kennzeichen solcher erzählerischer Großprojekte der Gegenwart ist, dass in sie subjektive und persönliche Erfahrungen einfließen, die zugleich hochpolitische globale Vorgänge widerspiegeln. Sehr oft erzählen diese Bücher von einer „Welt in Transit“, von Ein- und Auswanderung, von Flucht, Entwurzelung und Defiziten eines Neubeginns. Sigrid Löffler prägte dafür – auf die Romane multiethnischer, überwiegend englischsprachiger Autorinnen und Autoren wie Salman Rushdie und Monica Ali, Aleksandar Hemon („Das Buch meiner Leben“, 2013), David Bezmozgis, Nuruddin Fatah und Hanif Kureishi, von V. S. Naipaul und Ngugi wa Thiong’o, Elias Khoury und Taiye Selasi („Diese Dinge geschehen nicht so einfach“, 2013) gemünzt – den Begriff der Hybridität, also der Verschmelzung unterschiedlicher einzelner Elemente zu einem etwas Anderes, Neues ergebenden Ganzen. (3) Es ist dies eine „Literatur des Dazwischens, des Oszillierens zwischen den Kulturen, der mehrfachen Identitäten“ (Löffler). So wird das Erzählen großer Geschichten erneut zum Instrument der Welterkenntnis und des Welt Erkennens, zum literar- wie welthistorisch multiplen Roman. (4)

 

Anmerkungen:

(1) Volker Klotz: Erzählen. Von Homer bis Boccaccio, von Cervantes zu Faulkner: München: C. H. Beck Verlag 2006.

(2) Milan Kundera: Die Kunst des Romans. München: Carl Hanser Verlag 2007.

(3) Sigrid Löffler: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler. München: C. H. Beck Verlag 2013.

(4)Adam Thirlwell: Der multiple Roman. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2013.

 

Der Roman zählt noch immer und ungebrochen zur Königsklasse des Erzählens. Er macht die Mehrheit belletristischer Neuerscheinungen aus und ist für den Buchhandel ein gefragter wie sicherer Umsatzbringer.

AutorIn: 
Alexander Kluy

„Die Schweiz als ‚Sonderfall’, als ‚Willensnation’, als Insel der Unabhängigkeit und Neutralität, die Heidi-Schweiz und die Wilhelm-Tell-Schweiz, die Schweiz der ewigen Gletscher und der Alpenrosen, der glücklichen Bergbauern und der Soldaten an der Grenze eines feindlichen Europas, aber ebenso die Schweiz der Sackmesser und der Uhren, der Schokolade und des Käses, und natürlich: die Schweiz der geheimen Kontonummern: Diese sattsam herumgebotene Schweiz der Klischees, der Legenden und der Vorurteile existiert wohl wirklich nur in den Mythen und sieht in Wirklichkeit ganz anders aus.“ So leitete Iso Camartin, vormals Professor für rätoromanische Literatur und Kultur in Zürich, ein Buch über sein Heimatland, die Schweiz, ein. (1)

 

Vier Sprachen – unterschiedliche Ausrichtungen

1992, auf der Weltausstellung in Sevilla, wurde die Formel „La Suisse n’existe pas“ kreiert, die Schweiz gibt es nicht, was Debatten auslöste. 2014 wurde der Auftritt als Gastland der Leipziger Buchmesse vom Schweizer Buchhändler- und Verlegerverband SBVV unter das Schlagwort „Auftritt Schweiz“ gestellt. Inklusive Auftritten und Lesungen von 70 (existierenden) Autorinnen und Autoren sowie einer elektronischen Literatur-Landkarte der Schweiz mit Lebensorten und Schauplätzen, realen und vorgestellten Literaturorten. (2)

 

Orientiert sich die französischsprachige Literatur der Schweiz traditionell nach Frankreich, so ist Literatur aus der italienischsprachigen Schweiz nahezu gar nicht in Programmen Außerschweizer deutschsprachiger Verlage vertreten. Jüngste Ausnahme dieser Regel: „Die Brille des Gionata Lerolieff“, der Roman des 1928 geborenen Tessiners Giovanni Orelli, den 2014 der Bonner Weidle Verlag herausbringt. Literatur in rätoromanischer Sprache spielt außerhalb der rätoromanischen Sprachinsel keine Rolle – auch wenn Arno Camenisch (geboren 1978) aus Graubünden für „Sez Ner“ (2009) und „Ustrinkata“ (2012) mit Preisen ausgezeichnet wurde und derzeit als erfolgreichster Absolvent des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel gilt.

 

Beliebt, Bestseller, Rückkehrer

Weitaus bekannter ist die Generation deutsch schreibender Autorinnen und Autoren, die nach dem Tod Friedrich Dürrenmatts und Max Frisch’ hervortrat. Der Doyen dieser Jüngeren, der Romancier und emeritierte Germanistikprofessor Adolf Muschg, begeht 2014 seinen 80. Geburtstag. Erfolgreich ist in den letzten Jahren mit phantasievoll autobiographischen Büchern der 2014 verstorbene Urs Widmer gewesen. Die Bestsellerlisten der Schweiz, Deutschlands und Österreichs haben hingegen drei andere Schweizer gestürmt: Martin Suter, Alex Capus und Peter Stamm.

 

Thomas Hürlimann („Der große Kater“, 1998), Franz Hohler mit vielen Büchern für Kinder und Erwachsene gleichermaßen, Charles Lewinsky („Melnitz“, 2006), Katharina Faber („Fremde Signale“, 2008), Melinda Nadj Abonji, die 2010 für „Tauben fliegen auf“ den Deutschen Buchpreis und den Schweizer Buchpreis erhielt, Rolf Lappert („Nach Hause schwimmen“, 2008), Tim Krohn („Aus dem Leben einer Matratze bester Machart“, 2014), Urs Augstburger („Als der Regen kam“, 2012), Christoph Simon („Spaziergänger Zbinden“, 2010), Catalin Dorian Florescu („Jacob beschließt zu lieben“, 2011) und Alain Claude Sulzer („Zur falschen Zeit“, 2010) sowie der Germanist und Essayist Peter von Matt (3) haben sich jenseits des „Rösti-Grabens“ zwischen helvetischer Enge, Flucht und Kosmopolitismus – Themen, die die Bücher des 1929 geborenen Schweizer Wahl-Parisers Paul Nizon durchziehen – einen Namen gemacht. (4)

 

In jüngster Zeit zum Bestsellerautor aufgestiegen ist, ebenso überraschend für ihn wie für den Salis Verlag, Thomas Meyer, der, inspiriert von Philip Roth, ein für die Schweiz eher ungewöhnliches Thema aufgegriffen hat: Judentum und jüdische Identitätssuche. Joël Dicker ist mit seinem Millionenseller „Die Wahrheit über den Fall Harry Dicker“, für den der 1985 geborene Genfer namhafte französische Literaturpreise erhielt, ein internationales Phänomen.

 

Zu Schweizer Verlagen zurückgekehrt sind Gerold Späth und Dante Andrea Franzetti. (5) Dem 1989 verstorbenen Hermann Burger, dessen Bücher zu Lebzeiten bei S. Fischer und Suhrkamp erschienen sind, wird 2014 eine achtbändige Werkausgabe zuteil, ausgerichtet vom Zürcher Verlag Nagel & Kimche. Dieser ist Teil des deutschen Verlags Carl Hanser.

 

Buchmarkt und Buchhandelssituation

Die Situation unabhängiger Schweizer Verlage, vom ambitionierten Bilger Verlag über den Basler Christoph Merian Verlag bis zum Unionsverlag und Zytglogge, ist ganz überwiegend durch Kleinteiligkeit und überschaubare Mitarbeiterzahlen gekennzeichnet sowie durch Regionalismus – der sich auch literarisch niederschlägt: „Dr Goalie bin ig“, ein in Berndeutsch geschriebener Roman von Pedro Lenz, ist seit Erscheinen 2010 eines der meistverkauften Bücher im Raum Bern (die hochdeutsche „Übersetzung“ erschien 2012, die Verfilmung lief im Frühjahr 2014 in Schweizer Kinos an).

 

Ausnahme ist der Diogenes Verlag aus Zürich, der wie Dörlemann in Zürich (Schwerpunkt: Klassiker der Moderne) und Lenos in Basel (Literatur aus Arabien) dezidiert international ausgerichtet ist

 

Ein in den letzten Jahren akut gewordenes Problem für Schweizer Verlage ist der Wechselkurs des Schweizer Frankens zu den umgebenden Euro-Nachbarländern gewesen.

 

Im Schweizer Buchhandel wurde 2012 rund eine Milliarde Franken umgesetzt. Davon wurden 660 Millionen Franken in der deutschsprachigen Schweiz erwirtschaftet. Nach vier aufeinander folgenden Jahren mit teils markant einbrechenden Umsätzen stabilisierten sich diese im Jahr 2012. Der Umsatzrückgang der Schweizer Buchbranche seit 2007 beläuft sich auf 12,2 Prozent.

 

Deutschschweizer haben im vergangenen Jahr knapp 20 Millionen Bücher gekauft. 40 Prozent machte Belletristik aus, gefolgt von Kinder- und Jugendbüchern (18,7 Prozent) und Ratgebern (14,8 Prozent).

 

Am 18. März 2012 wurde bei einer Volksabstimmung der Antrag, die 2007 abgeschaffte Buchpreisbindung wieder einzuführen, wofür der Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband SBVV plädierte, mit 56,1 Prozent zu 43,9 Prozent der abgegebenen Stimmen abgelehnt. Die Auswirkungen der Preisliberalität sind mittlerweile vor allem in kleineren Städten und bei kleineren Sortimentsbuchhandlungen unübersehbar, treffen mittlerweile aber auch größere Filialisten. Der Trend von landesweit im Schnitt zehn Schweizer Buchhandlungen pro Jahr, die ihre Tätigkeit einstellen, hat sich 2012 fortgesetzt, ein verglichen mit den Nachbarländern ungewöhnlich hoher Wert. (6) Die Schweiz – eben ein Sonderfall.

 

Anmerkungen:

(1) Iso Camartin: Schweiz. C. H. Beck Verlag, München 2. Aufl. 2011.
(2) Siehe http://www.auftritt-schweiz.ch/de
(3) Peter von Matt: Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz. Carl Hanser Verlag, München 2012; derselbe: Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz. Carl Hanser Verlag, München 2001.
(4) Weiterführendes zum Schriftstellerverband „Autorinnen und Autoren der Schweiz“ auf der Website http://www.a-d-s.ch
(5) Siehe die Website des Lenos Verlags www.lenos.ch
(6) Siehe http://www.auftritt-schweiz.ch/sites/default/files/files/Marktreport%202012_Sortimentsbuchhandel%20DS_Final.pdf

Die Literatur der Schweiz hat viele Gesichter, nicht nur wegen der Mehrsprachigkeit der Alpenrepublik. Die jüngere AutorInnengeneration der Schweiz deckt ein breites Themenspektrum ab und ist zugleich so erfolgreich wie kaum eine vorhergehende.

AutorIn: 
Alexander Kluy

Der Kleist-Preis des Jahres 2014 geht an den Dresdner Schriftsteller Marcel Beyer. Übergeben wird er am 23. November 2014 in Berlin während einer Matinée im Berliner Ensemble, die Claus Peymann inszenieren wird.

 

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