Bilder & Bücher, soweit das Auge reicht!

Bilderbücher tragen zwei Ebenen in sich: eine Bild- und eine Textebene. Gemeinsam erzählen diese beiden Komponenten komplexe Geschichten für Kinder im Kindergartenalter (und darüber hinaus).

AutorIn: 
Andrea Kromoser


Wenn vom „klassischen Bilderbuchlesealter“ die Rede ist, sind damit oftmals Bilderbücher für drei- bis sechsjährige Kinder gemeint, die sich thematisch mit den unterschiedlichsten Frage- und Problemstellungen aus dem Alltag dieser Altersgruppe befassen. Bilderbücher sollen (und können) Kindern ein Stück Leben erklären und sie dabei bestmöglich auf die Schule vorbereiten. Mit Aussagen und Überlegungen dieser Art wird jedoch viel zu kurz gegriffen: denn das breite Feld der für das „klassische Vorlesealter“ konzipierten Bücher stellt sich weit größeren Herausforderungen als ausschließlich didaktischen Lösungsvorschlägen.

 

Themenbilderbücher: Identifikation in Wort und Bild

Als zusammenfassende Bezeichnung für die im Folgenden dargestellten Bilderbücher soll vorerst trotzdem der vordergründig auf didaktischen Überlegungen basierende Begriff der Themenbilderbücher stehen: „Ab drei Jahren können Kinder zunehmend differenziert Gefühle wahrnehmen und auch mit abstrakten Begriffen wie Spaß, Angst, Glück, Verlust, Liebe, Schreck etwas anfangen. Dafür eignen sich klassische Themenbilderbücher" (1), welche sich Thematiken des kindlichen und familiären Alltages widmen. Kinder beginnen sich darüber hinaus „mit den Helden der Geschichte zu identifizieren, sie erkennen Handlungsmuster aus ihrem Alltag wieder“ (2) und sind daher mit großer Intensität in den Vor- und Bildleseprozess involviert. Dabei kommt dem Lesen von Bildern – oftmals während des gleichzeitigen Vorlesens – besondere Bedeutung zu. In den Illustrationen werden häufig Details hervorgehoben, weitere Handlungsebenen ergänzt oder auch ganz neue Geschichten erzählt. Bild und Text können sehr stark voneinander abweichen, weitgehend parallel verlaufen oder sich gegenseitig ergänzen.

 

Bild-Text-Interdependenz: Verknüpfung von Wort und Bild

Der Bilderbuchexperte Jens Thiele hat die unterschiedlichen Verknüpfungsmöglichkeiten beider Ebenen in seinen Ausführungen über das Bilderbuch aufgefächert. Er spricht von Bild-Text-Interdependenzen (3) und meint damit das Verhältnis von Illustration und Text, welche miteinander ein künstlerisches Spiel eingehen, um gemeinsam eine Geschichte zu erzählen.

 

Darin liegt die herausragende Besonderheit des Genres „Bilderbuch“: im Miteinander, Nebeneinander oder auch Gegeneinander von Bild und Text. Valerie aus Mira Lobes und Winfried Opgenoorths Einschlafklassiker „Valerie und die Gute-Nacht-Schaukel“ darf im gereimten Text kräftig am Steuer eines Segelschiffes drehen, während sich drüben in der Hängematte der alte Käpt’n Klaus reckt und streckt und ausruht. (4) Vom Rest der Besatzung sowie all den Vögeln, Fischen und den anderen Tieren auf dem Schiff und in den schäumenden Wellen des umgebenden Ozeans ist keine Rede. – Hier lässt die Textebene der Bildebene breiten Interpretations- und Handlungsspielraum. Die großflächigen Illustrationen erzählen weit mehr als die Reime, gemeinsam entfalten sie Seite für Seite Valeries kindliche Phantasiewelt. Im Kontrast zur detailreichen, aufgeweckten Reise mit der Gute-Nacht-Schaukel erzählt Komako Sakai in „Hannas Nacht“ eine sehr ruhige, schlichte Nacht-Geschichte. (5) Die Illustrationen sind Stimmungsbilder, die zumeist die Aussagen des Textes visualisieren. Den geradlinig-erklärenden Sätzen verleihen sie zudem einen poetischen Ton. Ähnlich wie in Valeries Geschichte bleibt auch in Hannas nächtlichem Erkundungsgang durch die nur spärlich beleuchteten Räume ihres Elternhauses die Erwachsenenwelt fast ausschließlich außen vor.

 

Vorlesen: Reflexion in Wort und Bild

Beide Bilderbücher bieten Identifikationsfiguren, mit deren Hilfe sich (vorlesende) Erwachsene und Kinder gleichermaßen und miteinander in kindliche Erfahrungswelten vertiefen können. Die den Themenbilderbüchern immanente Darstellung (und damit einher gehende intensive Reflexion) differenzierter Emotionen wird dabei vordergründig durch die künstlerische Verwobenheit von Bild- und Textebene ermöglicht.

 

Anmerkungen:

(1) Nicola Bardola /Stefan Hauck/Mladen Jandrlic/Susanna Wengeler: Mit Bilderbüchern wächst man besser. Stuttgart: Thienemann 2009. S. 15.
(2) Nicola Bardola u. a.: Mit Bilderbüchern wächst man besser. S. 15.
(3) Siehe dazu: Jens Thiele: Jens Thiele: Das Bilderbuch. Ästhetik, Theorie, Analyse, Didaktik, Rezeption. 2. erw. Aufl. Bremen: Universitätsverlag Aschenbeck & Isensee 2003. S. 42–87.
(4) Vgl.: Mira Lobe/Winfried Opgenoorth: Valerie und die Gute-Nacht-Schaukel. Wien: Jungbrunnen 1981. [Ohne Paginierung]
(5) Vgl. Komako Sakai: Hannas Nacht. Aus dem Jap. v. Ursula Gräfe. Frankfurt am Main: Moritz 2013.

 

Literatur:

  • Katrin Feiner: Bilderbuch. Wien: STUBE 2012 [Heidi Lexe (Hg.)/Kathrin Wexberg (Hg.): Reihe Spektrum, Fernkurs Kinder- und Jugendliteratur der Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur, Wien].

 

 

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