Der Roman

Der Roman zählt noch immer und ungebrochen zur Königsklasse des Erzählens. Er macht die Mehrheit belletristischer Neuerscheinungen aus und ist für den Buchhandel ein gefragter wie sicherer Umsatzbringer.

AutorIn: 
Alexander Kluy


Seit rund 250 Jahren gibt es den Roman neuzeitlicher Prägung, den epischen Zyklus (in Novellen- oder Erzählfortsetzung) gar noch länger – bekannteste Beispiele: Giovanni Boccaccios „Decamerone“ oder „Tausendundeine Nacht“. (1) Mitte des 19. Jahrhunderts war die erzählende Langprosa endgültig zum beliebtesten literarischen Genre geworden.

 

Dabei maßgeblich mitgewirkt hat die grundlegende Eigenschaft des ausholenden Erzählens: seine Funktion als Instrument der Erkenntnis und des Welt-Erkennens, das Überführen von Wirklichkeit in Sprache. Und durch Sprache erstanden wiederum neue Welten. Auch ganz neue Roman-Welten.

 

Roman-Welten und Welten-Bauer

AutorInnen wie Balzac und Dickens, Tolstoj und Dostojewski, die Geschwister Brontë und Jane Austen, Theodor Fontane und Alessandro Manzoni schufen vielfältige, komplexe und beeindruckende Roman-Welten, schilderten Gesellschaften, Konstellationen und Gefühlslagen in Umbruch, Veränderung und Stillstand. Aber schon bei Gustave Flaubert und Herman Melville wurde sowohl die Welt brüchig und fragil, als auch die Welt des Romans und Romanschreibens. Und mit Thomas Mann, dann bei Marcel Proust war der Roman ein Instrument der Vermessung von Verlusten, der anhaltenden Suche nach der angehaltenen verlorenen Zeit. Womit auch die Roman-Zeit gemeint war.

Seit der Hoch-Zeit der Moderne, von Kafka, Joyce, Faulkner und Woolf bis zu Gadda, Gombrowicz, Nabokov und den Einzelgängern Bohumil Hrabal und Arno Schmidt, sind die Genrevorschriften und die Grenzen des Romans aufgeweicht. (2)

 

So gab und gibt es den eher essayistischen Roman in der Nachfolge von Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ und Hermann Brochs „Die Schlafwandler“ (Milan Kundera, „Die Unsterblichkeit“), es gibt Romane mit einer sehr kleinen Schar an auftretendem Personal, etwa bei Samuel Beckett oder den Franzosen Emmanuel Bove und Jean-Philippe Toussaint („Das Badezimmer“, 2004). Romane können als rhetorisch-musikalische Monologe angelegt sein (Thomas Bernhard, Gert Jonke) oder als Zwiegespräche (beim Schweizer Gerhard Meier). Sie können bewusst mit trivialen Elementen der Abenteuer-, Science Fiction- und Kriminalliteratur spielen (z. B. Georg Klein, „Die Zukunft des Mars“, 2013; Ilja Trojanow, „EisTau“, 2011). Ja, es gibt sogar das Genre des Kurzromans, der keine 100 Buchseiten zählt.

 

Und dezidiert literarische historische Romane können ihre Urheberinnen und Urheber, etwa Daniel Kehlmann oder die Engländerin Hilary Mantel, über den Zirkel der an rein unterhaltsamen historischen Fiktionen Interessierten hinaus weithin bekannt und zu BestsellerautorInnen machen.

 

Aber auch der monumental ausgreifende, als Jahrhundert-Panorama daherkommende Roman, in der Nachfolge eines Heimito von Doderer, Günter Grass, Albert Paris Gütersloh oder Alexander Solschenizyn, ist jüngst wieder gepflegt worden, so vom Ungarn Péter Nádas mit „Parallelgeschichten“ (2012) oder vom Amerikaner William T. Vollmann mit „Europe Central“ (2013), aber auch in Österreich. Wilhelm Pevny hat mit „Palmenland“ (2008) und „Die Erschaffung der Gefühle“ (2013) ambitionierte Projekte vorgelegt, und Robert Schindel 2013 mit dem sich auf ein Jahr konzentrierenden Roman „Der Kalte“ einen multiperspektivischen Roman geschrieben, in dem das Erzähler-Ich vielstimmig aufgespalten ist.

 

Familie und Selbstfindung

Nach der Ära der Postmoderne mit ihren formalen Experimenten (Georges Perec, Raymond Federman, John Barth) und des Abebbens des so genannten magischen Realismus südamerikanischer Autorinnen und Autoren (Gabriel García Marquez, Carlos Fuentes) Anfang der 1990er Jahre hat ab dem Jahr 2000, mit Jonathan Franzens Roman „Die Korrekturen“, der Familienroman eine neue starke Blüte erfahren. Dabei liegt der Akzent in der Nachfolge von John Updike und John Cheever auf der tiefenrealistischen, manchmal satirischen Wiedergabe zwischenmenschlicher Beziehungen. Arno Geigers „Es geht uns gut“ wurde 2005 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

 

Beliebt derzeit unter jüngeren Schreibenden ist auch das Motiv der befristeten Rückkehr in das einstige Elternhaus oder in die Stadt oder Region von Kindheit und Jugend, wobei Geheimnisse oder Verschwiegenes der Familienhistorie in unterschiedlicher Weise wie formaler Gestaltung zum Vorschein kommen. (Larissa Böhning, „Lichte Stoffe“, 2007; Sibylle Lewitscharoff, „Apostoloff“, 2009; Martin Becker, „Der Rest der Nacht“, 2014)

Andererseits ist das Thema des Aufwachsens und der Selbstfindung, von Kindheit und Jugend und Freundschaft, Schule und Internat, in erstaunlich vielen Romanen vornehmlich jüngerer und junger Autorinnen und Autoren zu finden, bei Cornelia Travnicek („Chucks“, 2012), Katharina Tiwald („Die Wahrheit ist ein Heer“, 2012) Christoph Peters („Wir in Kahlenbeck“, 2012), Nina Bußmann („Große Ferien“, 2012), Judith Schalansky („Der Hals der Giraffe“, 2012), in Jan Brandts „Gegen die Welt“ (2012) oder bei Elke Laznia („Kindheitswald“, 2014).

 

Querschnitte und Gefühle im Transit

In jüngster Zeit hat sich zum Familien- und Generationenroman der Querschnitt-Roman eines Hauses oder einer Straße zumeist in einer kosmopolitischen Metropole gesellt (Monica Ali, „Brick Lane“, 2004; John Lanchester, „Kapital“, 2013; Zadie Smith, „London NW“, 2014). Eine regionale Spielart ist zum Beispiel Helmuth Schönauers „Der Mitterweg ist ausweglos“ (2013).

 

Ein Kennzeichen solcher erzählerischer Großprojekte der Gegenwart ist, dass in sie subjektive und persönliche Erfahrungen einfließen, die zugleich hochpolitische globale Vorgänge widerspiegeln. Sehr oft erzählen diese Bücher von einer „Welt in Transit“, von Ein- und Auswanderung, von Flucht, Entwurzelung und Defiziten eines Neubeginns. Sigrid Löffler prägte dafür – auf die Romane multiethnischer, überwiegend englischsprachiger Autorinnen und Autoren wie Salman Rushdie und Monica Ali, Aleksandar Hemon („Das Buch meiner Leben“, 2013), David Bezmozgis, Nuruddin Fatah und Hanif Kureishi, von V. S. Naipaul und Ngugi wa Thiong’o, Elias Khoury und Taiye Selasi („Diese Dinge geschehen nicht so einfach“, 2013) gemünzt – den Begriff der Hybridität, also der Verschmelzung unterschiedlicher einzelner Elemente zu einem etwas Anderes, Neues ergebenden Ganzen. (3) Es ist dies eine „Literatur des Dazwischens, des Oszillierens zwischen den Kulturen, der mehrfachen Identitäten“ (Löffler). So wird das Erzählen großer Geschichten erneut zum Instrument der Welterkenntnis und des Welt Erkennens, zum literar- wie welthistorisch multiplen Roman. (4)

 

Anmerkungen:

(1) Volker Klotz: Erzählen. Von Homer bis Boccaccio, von Cervantes zu Faulkner: München: C. H. Beck Verlag 2006.

(2) Milan Kundera: Die Kunst des Romans. München: Carl Hanser Verlag 2007.

(3) Sigrid Löffler: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler. München: C. H. Beck Verlag 2013.

(4)Adam Thirlwell: Der multiple Roman. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2013.

 

 

 

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