Realistische Literatur

Der Bereich der realistischen Kinderromane enthält ein riesiges Reservoir an Geschichten, die die Welt in all ihrer Komplexität nachzeichnen.

AutorIn: 
Veronika Freytag


Keine Lebenswirklichkeit, die den Kindern in der Realität zugemutet wird, bleibt ausgespart, Gefühle werden differenziert betrachtet. Im modernen Leben bestimmen die Polaritäten Freiraum und mangelnde Sicherheit, Selbstverantwortlichkeit und Überforderung den „Daseinsernst“ kindlicher Identität, wie es der deutsche Germanist Hans-Heino Ewers formulierte (1). Diesen Daseinsernst literarisch zu gestalten, heißt, der Sichtweise der Kinder zu folgen und ihre Entwicklung von innen heraus verständlich zu machen. Das betrifft etwa moderne Armut (Renate Welsh: „Dr. Chickensoup“), Einwanderung und Abschiebung (Frank Cottrell Boyce: „Der unvergessene Mantel“), ein Arbeitslager für Kinder (Louis Sachar: „Löcher“), den Tod eines Kindes (Patricia McLachlan: „Edwards Augen“).

 

Reise in die Geschichte

Auch der historische Roman kann eine Folie für Entwicklungsprozesse der ProtagonistInnen sein und ermöglicht darüber hinaus einen kindgemäßen, ungewohnten Blick auf die Vergangenheit (Käthe Recheis: „Lena. Unser Dorf und der Krieg“; Christine Nöstlinger: „Maikafer, flieg!“; John Boyne: „Der Junge im gestreiften Pyjama“). Oder die Vergangenheit erscheint wie ein unglaubliches Abenteuer (Michael Köhlmeier/Monika Helfer: „Rosie und der Urgroßvater“).

 

Ernsthaftigkeit und Humor

Die Ernsthaftigkeit des psychologischen Romans und des Familienromans wird häufig mit Komik und schelmischen Elementen verquickt und ergibt so anregende wie unterhaltsame Texte, z. B. Romane von Guus Kuijer, Hilary McKay, Andreas Steinhöfel, Polly Horvath, Holly-Jane Rahlens, Zoran Drvenkar, Jenny Valentine, Marie-Aude Murail, Kate DiCamillo. Klassiker von Erich Kästner, Astrid Lindgren und Christine Nöstlinger verbinden übrigens seit jeher diese Elemente.

 

Buben und Mädchen

Für Buben bieten humoristisch gefärbte Romane einige Anreize (z. B. Eoin Colfers Geschichten um Tim). „Gregs Tagebuch“ von Jeff Kinney hat einen Hype um die neue Textsorte der Comic-Romane ausgelost, in denen gekritzelte Strichmännchen die tagebuchartigen Aufzeichnungen ihrer Anti-Helden auf sehr witzige Weise verdeutlichen. Eine Version für Mädchen ist Alice Pantermullers „Lotta-Leben“.

 

Wer löst den Fall?

Bei den Krimis dominieren die seit Jahren, ja Jahrzehnten bekannten trivialen Serien (z. B. von Thomas Brezina, „Die drei ???“), die auf deren immer noch beliebte Urform, Enid Blytons „Fünf Freunde“, zurückgehen. Die „Auskopplungen“ bekannter Serientitel für jüngere Kinder („Die drei ???-Kids“), Krimiserien für fortgeschrittene ErstleserInnen (Jürgen Banscherus: „Ein Fall für Kwiatkowski“; Martin Widmark: „Detektivbüro LasseMaja“) und Ratekrimis zeigen das Interesse gerade der Jüngeren am Genre. Auch weibliche Detektivinnen haben nun mit „Die drei !!!“ „ihre“ Serie. Aus österreichischer Sicht stechen literarisch Heinz Janischs „Herr Jaromir“ in Sherlock-Holmes-Manier und Christine Nöstlingers „Pudding-Pauli“ in gewohnt witzigem Mix aus Krimi-, Alltags-, Familiengeschichte mit gesellschaftskritischem Hintergrund hervor. Für Jugendliche dominieren zunehmend harte Thriller (z. B. Anthony Horowitz, Ursula Poznanski), zuweilen verbinden sich psychologisch komplexe Verbrechensgeschichten mit Gesellschaftskritik (Mats Wahl: „Kill“).

 

Abenteuergeschichten

Die früher eher angestaubt wirkenden Abenteuerbücher, von denen nur ganz wenige Klassiker noch Interesse hervorgerufen haben (z. B. Mark Twain, Jules Verne), haben ein Revival erlebt. Davon zeugen neue Reihen („39 Zeichen“) und eine große Bandbreite an interessanten Einzeltiteln (Timothee de Fombelle: „Vango“) und Wiederauflagen (Mira Lobe: „Insu Pu“).

 

Anmerkungen:

(1) Hans-Heino Ewers: Die neunziger Jahre. In: Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. v. Reiner Wild. Stuttgart 2002, S. 456.

 

 

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