Klassiker

Was ist unter einem Klassiker der Kinderliteratur zu verstehen? Ein Blick auf heute so bezeichnete Bücher zeigt, dass in der Kinderliteratur andere Kriterien für Klassiker gelten als in der Allgemeinliteratur.

AutorIn: 
Heidi Lexe


Die Klassikerpflege ist ein beliebtes Schlagwort, das überall dort auftaucht, wo renommierte Theater ihr Programm gestalten oder ein Lesekanon für Schulen erstellt werden soll. Gemeint sind mit diesen zu pflegenden Klassikern die Höhepunkte literaturgeschichtlicher Entwicklungen – Werke also, die als mustergültig und über die Zeiten hinweg wesentlich erscheinen. Jede Nationalliteratur benennt solche Klassiker und spricht oftmals sogar von einer eigenen Epoche. Einige dieser Klassiker haben sich sogar über Nationalliteraturen hinaus als stilprägend etabliert und werden bis heute gerne unter dem Begriff der Weltliteratur präsentiert.

 

Zur Frage nach einem klassischen Kanon

Blickt man hingegen auf die Kinderliteratur, werden mit dem Klassiker ganz unterschiedliche Werke ganz unterschiedlicher Qualität bezeichnet: „Gullivers Reisen“ zum Beispiel, Jonathan Swifts Reise- und Abenteuerroman, der ursprünglich für Erwachsene erschienen, aber über die Jahrhunderte hinweg immer wieder für Kinder und Jugendliche adaptiert wurde. Oder Waldemar Bonsels‘ kriegserzieherisches Werk „Die Biene Maja“, dessen Figuren zu HauptdarstellerInnen einer herzallerliebsten Zeichentrickserie wurden.

 

Von diesem Sammelsurium ausgehend kann in der Kinder- und Jugendliteratur also nicht von einem klassischen Kanon gesprochen werden, der sich auf Grund von literarischer „Mustergültigkeit“ gebildet hat. Vielmehr ist es die Popularität der unterschiedlichen Werke, die sie zu Klassikern macht. Interessant dabei erscheint, dass diese Popularität oft nur in geringem Maß auf dem Erfolg des Buches selbst beruht, sondern vielmehr auf dessen medialer Präsenz: Rudyard Kipling zum Beispiel zählt zwar zu den vieldiskutierten Autoren der Kolonialmacht Großbritannien im ausgehenden 19. Jahrhundert; dennoch darf bezweifelt werden, dass seine Dschungelbücher ohne das Mitwirken von Walt Disney heute noch breiter bekannt wären. Ist nun also der Film der Klassiker oder das Buch? Und welche Version des Buches, von dem erst seit 1987 eine vollständige und gültige deutschsprachige Übersetzung (von Wolf Harranth) vorliegt?

 

Kinder- und Jugendbuchklassiker als populärer Kanon

Es zeigt sich, dass es kinderliterarische Werke aus ganz unterschiedlichen Herkunftsländern und ganz unterschiedlichen Epochen sind, die heute im deutschsprachigen Raum als Klassiker bezeichnet werden. Es sind Werke, die von vielen, aufeinander folgenden Generationen rezipiert wurden und in immer wieder neuen medialen Kontexten auftauchen – vom Bühnenstück bis zur Horrorfilm-Version, vom Computerspiel bis zum Literatur-Poster. Diese Bandbreite legt zwei Vermutungen nahe:

 

Erstens: Es handelt sich um Werke, die ihren Platz im kulturellen Gedächtnis gefunden haben.

 

Zweitens: Dieser Platz im kulturellen Gedächtnis jedoch muss nicht durch das Original selbst besetzt worden sein. Vielmehr ermöglicht es der stete (mediale) Rückgriff auf die einzelnen Werke, diese für unterschiedliche Generationen präsent zu halten. Bekannt sind daher viel eher markante Aspekte der einzelnen Werke (Figuren, Settings, Motive etc.) – nicht aber die Werke selbst. Gesprochen wird in der Fachliteratur daher von einem so genannten populären Kanon.

 

In ihrem Beitrag über Kanonbildung sprechen Jan und Aleida Assmann davon, dass Kanonbildung auf zwei Aspekten beruht: Auf der Textpflege und der Sinnpflege einzelner Werke. Die Sinnpflege eines Werkes, die Frage nach seiner (motivischen) Bedeutsamkeit über die Zeit hinweg, kann durchaus in unterschiedlichen medialen Kontexten passieren. Die Textpflege jedoch kann nur im literarischen Bereich selbst erfolgen. Die Kinderliteratur jedoch kennt keine solche Textpflege: Klassiker werden nach Belieben auf Einheitslängen gekürzt, als Erstlesebücher herausgebracht oder als Text-Spielwiese für „verbuchte“ Medienformate genutzt.

 

Klassiker der Kinderliteratur und ihr spezifisches Kindbild

Verloren geht dabei das Bewusstsein für ein ganz spezifisches Kindbild, das sich in den Klassikern der Kinderliteratur abzeichnet. Wobei mit diesem Gattungsbegriff nun eine explizite Einschränkung verbunden ist: Gemeint sind Werke, die schon im Original an ein kindliches Lesepublikum gerichtet waren und heute unabhängig von Zeit und Ort ihrer Herkunft als Texte im Kanon moderner Kinderliteratur präsent bleiben. Sie alle, seien es „Pippi Langstrumpf“, „Alice im Wunderland“ oder „Pinocchio“, zeigen Kinder, die vor dem Hintergrund unterschiedlicher Bewährungsproben ganz autonom agieren: Frei von erwachsenen Bindungen etablieren sie Kindheit als Raum des Spiels und der Erprobung – auch dann, wenn ihre Autonomie am Ende der Romane wieder zurückgenommen wird. Jene Figur, die nicht aus einem Traum erwacht oder erwachsen wird, ist Pippi Langstrumpf. Sie ist der Inbegriff kindlicher Autonomie und markiert mit ihrem Erscheinungsdatum (das schwedische Original erschien 1945) auch eine Zäsur hin zur modernen Kinderliteratur.

 

Denn der Klassiker liegt immer außerhalb der jeweiligen Modernen und ist nur durch eine gewisse historische Distanz zu bestimmen. Dadurch unterscheidet er sich vom Kult- und/oder Erfolgsbuch (obwohl natürlich jeder Klassiker der Kinderliteratur auch ein Erfolgsbuch seiner Zeit war). So kann Joanne K. Rowlings serieller Entwicklungsroman „Harry Potter“ durchaus als moderner Klassiker bezeichnet werden – und korrespondiert auch in vielerlei motivischer Hinsicht mit den Klassikern der Kinderliteratur. Den Prozess der Text- und Sinnpflege über die Jahrzehnte hinweg hat er jedoch noch vor sich.

 

Literatur:

  • Jan und Aleida Assmann: Kanon und Zensur. In: Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II. München 1987. S. 7–27.
  • Heidi Lexe: Pippi, Pan und Potter. Zur Motivkonstellation  in den Klassikern der Kinderliteratur. Wien: Praesens Verlag 2003 (Kinder- und Jugendliteraturforschung in Österreich 5).
  • Emer O’Sullivan: Klassiker und Kanon. Versuch einer Differenzierung nach Funktionszusammenhängen. In: JuLit 3/2000. S. 16–27.

 

 

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