Erzähl mir was!

Lange bevor wir lesen können, hören wir zu. Wir erfahren die Welt, indem wir aufnehmen, was uns erzählt wird. Und wir haben schon früh das Bedürfnis, uns selbst mitzuteilen. Heute wird Kindern immer öfter nachgesagt, dass sie nicht mehr zuhören können. Umso wichtiger ist es geworden, gute GeschichtenerzählerInnen zu erleben, damit diese grundlegende Kulturtechnik lebendig bleibt.

AutorIn: 
Josef Mitschan


Kinder lauschen in voller Aufmerksamkeit einer Geschichtenerzählerin: Sie haben den Mund geöffnet und befinden sich wie in einer eigenen Welt, während sie zuhören. Sie tauchen mit allen Sinnen in das Geschehen ein, das mit Stimme und körperlicher Präsenz vor ihnen ausgebreitet wird. Später können sie Dialogszenen oder einen Spruch aus dem Märchen wiedergeben und werden eine bildhafte Erinnerung haben. Erzähltes kann uns im Innersten berühren und Zuhören bietet in unserer reizüberfluteten Zeit die Chance, Konzentration einzuüben und unser eigenes Leben als Geschichte zu verstehen.

 

Es war einmal

Erzählen ist eine uralte Kulturtechnik. Es fällt nicht schwer, sich unsere Vorfahren am Feuer sitzend vorzustellen, wie sie einander erzählen – von den Taten ihrer Vorfahren, von den Geschehnissen des Tages, von den Veränderungen, die ihnen bevorstehen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft treffen sich in der mündlichen Weitergabe. Zugleich ist dieses einander Zuhören und selbst etwas zu sagen zu haben ein soziales Ereignis. Bis heute verständigen sich Menschen über Geschichten, weil sie die Möglichkeit bieten, Emotionen Raum zu geben.

 

Was uns aufgrund eines starken Gefühls wichtig geworden ist, tragen wir weiter – das muss nicht immer schön oder angenehm sein, denn auch Trauer und Wut gehören zu unserer emotionalen Grundausstattung. Und vermittelt wird mehr als nur das Gesagte. Tiefenpsychologische Deutungen von Volksmärchen zeigen Zusammenhänge auf, an die wir im Moment des Zuhörens nicht denken würden. Das war vielleicht mit ein Grund, warum viele Eltern damit aufgehört haben, die „grausamen Märchen“ mündlich weiter zu geben. Heute ist das Märchenerzählen in Österreich als immaterielles Kulturerbe anerkannt. (1) Professionelle Erzählerinnen und Erzähler schöpfen aber überwiegend aus schriftlichen Quellen und Erzählen ist zu etwas Seltenem und Kostbaren geworden.

 

Hier gibt es was zu erleben

Die Kindheit ist eine Zeit des magischen Erlebens. Vieles im täglichen Leben bleibt unverständlich und Geschichten voller Zauber, Verwandlung und Erlösung liefern Vorbilder, die dazu einladen, sich auf Gefahren einzulassen. Die Königstochter will die Spindel berühren, Aschenputtel auf den Ball gehen und Hänsel und Gretel möchten vom Knusperhaus naschen. Eine gute Geschichtenerzählerin nimmt uns mit in das Geschehen, führt uns mitten hinein in den Turm, in den finsteren Wald, ins Königsschloss – und führt uns wieder heraus, bis „alle Sorge ein Ende hat“, wie es in Grimms „Hänsel und Gretel“ heißt. Dieses Erlebnis ist für alle Beteiligten mit einer besonderen Sprache verbunden und die Struktur der Geschichten ist immer wieder ähnlich, so dass wir von Beginn an Muster verfolgen können, die zum guten Ende führen – eine Fähigkeit, die beim Lesen erneut Anwendung finden wird.

 

Idealerweise bekommen Kinder von Eltern oder Großeltern erzählt – als Ritual zu wiederkehrenden Gelegenheiten, vor dem Einschlafen etwa. Die Realität der meisten Kinder sieht heute anders aus. Viele erleben Abenteuer in erster Linie in den virtuellen Räumen, die von der Unterhaltungsindustrie hervorgebracht werden.

 

Bibliotheken, die Eltern mit allen erdenklichen Kindermedien versorgen wollen, können mit regelmäßigen Geschichtenzeiten, die von Erzählerinnen und Erzählern gestaltet werden, dem wachsenden Interesse an der Erzählkultur Rechnung tragen. Die dabei erlebten (oder ähnliche) Geschichten können als Buch oder Hörbuch mit nach Hause genommen werden und so die Basis für Lesebegeisterung legen.

 

Alle mal herhören!

Das zwischenmenschliche Ereignis des Erzählens kann in einem Hörbuch nicht reproduziert werden, aber es soll nicht wenige Eltern geben, die Rufus Beck schon als Teil der Familie ansahen, während er über Tage und Wochen verteilt aus dem CD-Player Harry Potter vorlas oder, besser gesagt, die Welt der Zauberschule Hogwarts durch die Magie seiner Stimme entstehen ließ.

 

Immerhin hat der Boom des Hörbuchs klar gemacht, dass Zuhören eine besondere Qualität hat. Wenn Eltern und Kinder gemeinsam zuhören, ist auch zu erwarten, dass beide wie von selbst zu erzählen beginnen, denn das eine kommt ohne das andere nicht aus.

 

Erzählen und Lernen – Erzählen lernen!

In den letzten Jahren sind zahlreiche Handreichungen über das Erzählen in Buchform erschienen – von der Geschichtenwerkstatt bis zum heilenden Märchen gibt es ein breites Spektrum an Zugängen. Auch Workshops und Ausbildungen für unterschiedliche Zielgruppen werden immer zahlreicher. Die meisten dieser Angebote richten sich an Pädagoginnen und Pädagogen. Das ist nicht verwunderlich, denn sie verbringen heute die meiste aktive Zeit mit Kindern und Erzählen eignet sich hervorragend dazu, wichtige soziale und vor allem Sprachkompetenzen zu fördern.

 

Projekte in Volksschulen haben gezeigt, dass Zuhören und Nacherzählen von frei erzählten Geschichten nicht bloß den Wortschatz erhöhen, sondern auch dazu taugen, Kinder mit anderer Muttersprache emotional für die Unterrichtssprache zu interessieren und Kinder aus bildungsfernem Elternhaus für Geschichten und Bücher zu öffnen. (2)

 

In der Erwachsenenbildung ist der englische Begriff „storytelling“ hochaktuell: Alles, was uns interessieren soll, kann in Geschichten verpackt werden – und wer zuhört, macht einen ersten Schritt in eine neue Welt.

 

Anmerkungen:

(1) Im Jahr 2010 hat die Österreichische UNESCO-Kommission auf Antrag des Märchenerzählers Helmut Wittmann das Märchenerzählen in das Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Vgl. http://unesco.scharf.net/cgi-bin/unesco/element.pl?eid=18

(2) Kristin Wardetzky/Christiane Weigel: Sprachlos? Ein Projekt zur Sprachförderung mit Migrationskindern. Vgl. http://www.erzaehlen.de/erzaehlen.de/Wardetzky_Sprachlos_files/Wardetzky_Sprachlos_1.pdf

 

 

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