Vea Kaiser bloggt über die Flüchtlingsthematik

Vea Kaiser setzt sich im August mit dem Umgang der Politik und der Gesellschaft mit Flüchtlingen auseinander und will "mit Worten wirken".

Dieser Tage lese ich nicht gern. Sobald ich die Zeitung aufschlage, lese ich von Dingen, die ich nicht lesen will – weil ich nicht will, dass sie passieren; weil ich nicht verstehen kann, dass in Österreich, einem der reichsten Länder der Welt, Hilfe suchende Menschen von offizieller Seite derart wenig Hilfe bekommen. Ich will nicht lesen, wie in Deutschland die Flüchtlingsunterkünfte brennen, wie auf kleine Kinder uriniert wird, und ich will keine Worte darüber lesen, warum wir unsere Grenzen dicht machen müssen, warum friedliche Menschen, die vor Krieg, Terror und Bedrohung flüchteten, eine Gefahr für unsere Sicherheit sein sollen.

 

Aber ich muss all das lesen, denn Wegschauen ist keine Alternative. Und etwas anderes kann ich zurzeit nicht lesen. Ich kann mich gerade nicht in Bücher stürzen, die mir eine bessere Welt vorgaukeln, wenn sie von lustigen WGs erzählen oder davon, wie schwer es ist, das von den Großeltern geerbte Haus am Land zu renovieren.

 

Auch arbeiten geht nicht. Ich würde gerne beginnen, ein drittes Buch zu schreiben, mit dem Verlag ist schließlich bereits vereinbart, dass es 2017 erscheint, das heißt, ich sollte schon längst dran sitzen, sollte schon ein bis zwei Kapitel fertig haben, damit sich das alles ausgeht. Aber wie kann man Figuren erfinden, in eine Fantasiewelt eintauchen, wenn wenige Tage zuvor ein Kühlwagen voller Leichen in einer Pannenbucht entdeckt wurde? Menschen, über die wir nichts anderes wissen, als dass sie einst voller Hoffnung in diesen Wagen gestiegen sind? Wie kann man sich für die Schicksale zu erfindender Figuren begeistern, wenn man vom Schicksal dieser Menschen erfährt, keine fünfzig Kilometer vom eigenen Schreibtisch entfernt?

 

Meine Antwort: gar nicht. Es gibt Momente, da schmeckt das gewohnte Leben nichtig und fahl. Da rückt der lebenslange Traum, Bücher zu lesen und zu schreiben, plötzlich in die zweite Reihe. Da funktioniert es nicht mehr, zu lesen, weil nach jedem Satz in der fiktiven Welt die Tragödien in der realen Welt wieder überhandnehmen. Die Helden des Hier und Jetzt sind nicht Odysseus, der junge Werther oder König Artus. Die Helden des Hier und Jetzt sind all diejenigen Leute, die seit Wochen Spendenaktionen organisieren oder vor Ort helfen. Es sind diejenigen, die an den Bahnhöfen Ankommende willkommen heißen und mit dem Nötigsten versorgen. Es sind die Menschen, die wissen, dass sie mit dem, was sie tun, ihr eigenes Leben nicht leichter oder schöner machen – und es aber trotzdem tun, weil sie wissen, dass es richtig ist.

 

Und mich beschäftigt durchgehend die Frage: Was können wir Menschen der Worte tun? Vielleicht ist es kurz an der Zeit, nicht über die Probleme im stationären Handel, die sinkende Leselust der Jugendlichen, die unfairen Literaturkritiker und den Zustand des Buchmarkts zu lamentieren, sondern unsere Kernkompetenz einzusetzen: mit Worten zu wirken. Sich auszusprechen für ein menschliches Miteinander und den Lügen der erstarkenden Rechten mit Vernunft und Wahrheit, mit Humanismus, etwas entgegenzusetzen. Und vor allem: Laut und stark dagegen zu protestieren, dass unsere Regierung untätig zuschaut und die Zivilgesellschaft bei dem allein lässt, was die Regierung eigentlich tun sollte, was von ihr verlangt wird: zu helfen.

 

Aber Worte sind nicht genug, jeder Einzelne ist gefragt. Ich habe lange überlegt, was ich tun kann, außer meine Gedanken in Kolumnen, Texte und Blogs zu verpacken. All das, was gerade geschieht, in einem Roman zu verarbeiten – das hätte für das Hier und Jetzt absolut gar keine Relevanz. Ich würde am liebsten in Traiskirchen stehen und helfen, doch ich bin bis Mitte Dezember auf Lesetour. Dieses Privileg, mehr als drei Monate lang fast jeden Abend Menschen in eine Fantasiewelt zu entführen, steht in keinem Verhältnis zu all dem Schrecken, der sich Tag für Tag in der realen Welt abspielt. Um dieses Verhältnis aber wenigstens ein bisschen anzugleichen und die Möglichkeiten, die sich mir bieten, um zu helfen, zu ergreifen, habe ich beschlossen, die Lesetour zum Helfen zu benutzen und einen großen Teil des Honorars für Projekte, die Menschen in Not helfen, zur Verfügung zu stellen. Denn das ist das, was ich tun kann. So wie jeder auf seine Art etwas anderes tun kann.

 

Und es versteht sich von selbst, dass mit dem Honorar für diesen Text das Gleiche geschehen wird. Damit aus Worten auch Taten werden.

Gastblogger/in

Vea Kaiser (c) Ingo Pertramer
(c) Ingo Pertramer

Vea Kaiser, geboren 1988, studiert Altgriechisch in Wien. Ihr Debütroman "Blasmusikpop" wurde 2013 als bestes deutschsprachiges Debüt auf dem internationalen Festival du Premier Roman in Chambéry vorgestellt und für den aspekte-Literaturpreis nominiert. 2014 wurde sie zur österreichischen Autorin des Jahres gewählt. 2015 ist ihr zweiter Roman "Makarionissi oder Die Insel der Seligen" erschienen.

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