Iris Wolff bloggt: Stimmen sammeln

Die Autorin Iris Wolff berichtet von den bleibenden Eindrücken des Bibliothekskongresses in Graz.

Dass es in Kolumbien einen Bücher sammelnden Müllmann gibt, weiß ich erst seit einigen Tagen, genauer gesagt, seit dem Internationalen Bibliothekskongress des BVÖ in Graz. José Alberto Gutiérrez bezeichnet Bücher als seine besten Lehrer und träumt davon, eine Bücher-Bank zu eröffnen. Die Liebe zu Büchern hat er von seiner Mutter, die ihm als Kind vorgelesen hat. Vorgelesen zu bekommen ist ein Geschenk – Torbjörn Nilsson hat unter anderem erzählt, dass die Bibliothek Malmö eine Dragqueen einlädt, um Kindern vorzulesen. Bücher sind keine neutralen Übermittler von Informationen, sie sind Gegenstände mit einer eigenen Persönlichkeit. Durch das Vorlesen bekommt eine Geschichte eine Stimme (je diverser, desto besser), und ich träume schon lange davon, dass das Publikum bei Lesungen nicht auf Stühlen sitzen, sondern auf Kissen liegen darf, was zu meinem großen Bedauern leider bislang kein Veranstalter beherzigt hat.

 

Bibliotheken sind Orte des Bewahrens und der Verbindung (auch der Zeitlosigkeit). Es sind Räume, die an keine Bedingung geknüpft sind, höchstens vielleicht an einen Ausweis, manchmal nicht einmal das. Einige über die Welt verteilte Bücher in Bibliotheken sind die sicherste Investition für die Überlieferung von Wissen. Nein, ich stimme nicht ein in die Prophezeiungen, dass es das Buch als geschlossenes Werk nicht mehr lange geben wird, sondern nur noch in der Zusammenstellung verschiedenster Medien. Wie wunderbar, dass Michael Hagner die moralische Ökonomie des Buches aufzeigt. Es führt nirgendwohin, das Buch mit anderen Medien zu messen, und deren Stärken als eigene Schwächen auszulegen. Das eine muss nicht gegen das andere ausgespielt werden. Es gibt Dinge, die sind bereits perfekt. José Alberto Gutiérrez' Traum zeigt es, Bücher sind eine unserer stabilsten Währungen.

 

Wer bestimmt, was wir sammeln? Mir gefällt die Idee, den Buchbestand einer Bibliothek in einem gemeinsamen Prozess festzulegen, Regale einzurichten, die Vereine bestücken, Eltern für andere Eltern, Jugendliche für Gleichaltrige. Wie kann man Schulbibliotheken besser mit öffentlichen Bibliotheken vernetzen? Was impliziert Barrierefreiheit? Wo beginnt und endet Meinungsfreiheit? Welche Rolle spielen Bibliotheken für den Erhalt von freiheitlichen Grundordnungen? – sind nur einige der Fragen, die in den Workshops diskutiert wurden. In Malmö werden „A million stories“ gesammelt. Geflüchtete Menschen schreiben und malen ihre Geschichte, oder werden interviewt. Andere Bibliotheken laden Zeitzeugen ein. All diesen Initiativen liegt die Annahme zugrunde, dass, nach Heidemarie Uhl, Worte Macht haben. Sie bewegen, berühren, bewirken. Worte, die an eine bestimmte Person geknüpft sind, an eine Stimme, die überrascht, fesselt, beflügelt, manchmal auch verstört, wird man nicht so leicht vergessen.

 

Es ist gut, sich mit Halo Locher die unbequeme Frage zu stellen, ob wir in der besten aller Demokratien leben. Wir brauchen Visionen und den Mut, sie weiterzuentwickeln. Tamara Ehs' Demokratie-Repaircafé setzt beim Einzelnen an. Demokratie ist ein Prozess, in dem sich Menschen einbringen – je mehr, desto besser. Es ist ein wenig so, wie mit dem Schreiben. Für die Textarbeit braucht es das Alleinsein, aber lebendig wird ein Text erst durch andere.

Gastblogger/in

Iris Wolff
© Falko Schubring

Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt/Siebenbürgen. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik und Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach. 2013 Literaturstipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg, 2014 Ernst-Habermann-Preis, 2018 Literaturstipendium des Landes Baden-Württemberg. Mitglied im Internationalen PEN. „So tun, als ob es regnet“ ist der dritte Roman der Autorin.

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