Clemens J. Setz bloggt über "die Stimme"

Clemens J. Setz erzählt im ungewöhnlich heißen Juli über die Entdeckung einer unerhörten Wiener Gruftführerstimme, die ihn bis nach Den Haag begleitete.

Am zweiundzwanzigsten Juli fuhr ich früh nach Wien, von wo aus ich am Nachmittag weiter nach Amsterdam fliegen würde. In Begleitung zweier befreundeter Damen ging ich in die Gruft unter dem Stephansdom. Ich war bis dahin nie dort gewesen, obwohl ich es oft vorgehabt hatte. Diesmal blieb uns allerdings nichts anderes übrig, denn der Wetterbericht hatte mit geisteskranken 38° angegeben und ich trug, wie immer, viel zu viele Schichten Kleidung übereinander. Sogar ein schwarzes Sakko gehörte zu meiner Aufmachung an diesem Tag. Auf der etwa halbstündigen Führung sahen wir den bis heute aktiven Bestattungsbereich der Erzbischöfe Wiens, den Raum mit den Urnen, in denen die inneren Organe der Habsburger aufbewahrt werden, und einen Korridor mit einer Sammlung seltsamer, tatzelwurmartiger Steinkreaturen, deren Köpfe wie durchschossen wirkten: ein klaffendes Loch reichte vom Schlund zum Nacken. Auch eine am Rumpf beunruhigend schräg abgesägte, menschliche Figur war darunter, deren Anblick uns ein Gefühl optischer Illusion vermittelte. Später wurden wir durch die Knochenkammern geführt und zuletzt vorbei an der Pestgrube mit den traurigen, wie zerwühlte, kohlengeschwärzte Bettwäsche daliegenden Gebeinen.

 

Zugegeben, ich habe Mühe, mich an alle Details zu erinnern, denn was meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, war der Führer: ein junger, in Statur und Barttracht an Samwell Tarly aus "Game of Thrones" erinnernder Mann, der in einem ungewöhnlich hypnotischen Tonfall zu uns sprach. Er rezitierte auswendig gelernte Texte in einem feierlichen, etwas mittelalterlichen Sprechstil, der mich – mir fällt kein anderes Wort ein – auf eine abstrakte Weise "wuschig" machte. Ich wünschte mir, dieser Mann könnte jeden meiner Romane als Hörbuch sprechen. Ich wollte ihm am liebsten ewig zuhören. Warum konnte man nicht immer so sprechen?

 

Einige Stunden später befand ich mich in Den Haag, wo ich mit der Schriftstellerin Cornelia Travnicek und ihrem Mann in der Chinatown zu Abend aß. Immer noch schwirrte mir der Gruftführertonfall aus Wien durch den Kopf und ich wollte am liebsten alles in ihm benennen und kommentieren – die Businesshotels, die niedlich verwinkelte Innenstadt, die schläfrigen Markisen, die unerhört attraktiven Einheimischen. Als wir zurück zum Hotel gingen, verabschiedete ich mich von Cornelia und ihrem Mann mit der Ausrede, in dem abendlichen Park (Haagse Bos) nach einem Menschen suchen zu wollen, den ich zu irgendetwas überreden konnte. In Wahrheit wollte ich mir natürlich nur mein Headset ins Ohr stecken und im Schutz der Bäume und der Dunkelheit einige Minuten in der unerhörten Wiener Gruftführerstimme sprechen. Das Headset behielt ich im Ohr, um nicht wie ein Verrückter zu wirken. So beschrieb ich, laut und mit dem Gefühl inneren Vergoldetwerdens, die Gänse, die hübsch-ordentlichen Spazierwege, die Parkteiche und Laternen, und den noch immer, trotz der späten Abendstunde, nicht annähernd dunklen Himmel.

Gastblogger/in

Clemens J. Setz © Paul Schirnhofer
© Paul Schirnhofer

Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren, wo er Mathematik sowie Germanistik studierte und heute als Übersetzer und freier Schriftsteller lebt. 2011 wurde er für seinen Erzählband "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes" mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Sein Roman "Indigo" stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 und wurde mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2013 ausgezeichnet. 2014 erschien sein erster Gedichtband "Die Vogelstraußtrompete" und 2015 sein Erzählband "Glücklich wie Blei im Getreide".

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