Anna Kim bloggt über ihre Lektüre zu den Anschlägen in Paris

Anna Kim diskutiert im November, ob Michel Houellebecqs Roman "Unterwerfung" zurecht der Vorwurf der Islamophobie gemacht wurde und beschreibt welchen Einfluss der gegenwärtige Terror auf ihre Lektüre hat.

Am Tag vor den Anschlägen in Paris habe ich begonnen, Unterwerfung (Soumission, 2015) von Michel Houellebecq zu lesen. Meine Lektüre wurde sicherlich von den Ereignissen in Frankreich, Belgien und Deutschland, der Suche nach den Attentätern, den Festnahmen in Frankreich und Belgien und den Bomben-Warnungen in Deutschland beeinflusst. Hier stellt sich schon die erste Frage, die Grundsatzfrage nämlich, wie ein Roman gelesen werden sollte: als Kommentar, gleichsam ergänzend zu den aktuellen Geschehnissen? Oder als ein literarisches Werk, das eigenen Zielen sowie Regeln folgt, um ein Universum zu kreieren, das für sich existieren kann und existiert? Das Letztere ist bei einem Buch, das in einem solchen Ausmaß aktuell ist und sein möchte, schwierig, vielleicht sogar unmöglich, da die Bezugspunkte zur realen Welt in den Text eingearbeitet sind (François Hollande etwa hat einen Auftritt, ebenso Manuel Valls).

 

In Frankreich wurden Houellebecq und seinem Roman Islamophobie vorgeworfen, in Deutschland wurde der Vorwurf in fast jeder Rezension abgeschmettert. Islamophob scheint François, der Protagonist in Unterwerfung, tatsächlich nicht zu sein, im Gegenteil: Als etwa mit Ben Abbes ein Muslim französischer Präsident wird, was sich auch in einer „Islamisierung“ des Stadtbildes in Paris äußert - offenbar geht das im Houellebecq’schen Universum ruckzuck - probiert der wissenschaftsmüde Huysmans-Experte François, der nicht mehr an der Université Paris-Sorbonne III lehren darf, weil er nicht rechtzeitig zum Islam konvertiert ist (ein Versäumnis, das nicht auf seinen Unwillen zurückzuführen ist, sondern darauf, dass er bürokratischen Forderungen prinzipiell ungern nachkommt), ein muslimisches Escort-Mädchen aus. (Überhaupt geht es in dem Roman viel um Sex, der Titel verweist bereits auf Die Geschichte der O von Dominique Aury/Pauline Réage.)

 

Als dezidiert islamfeindlich empfand ich den Roman nicht, wohl aber undifferenziert, daher zumindest unterschwellig rassistisch. Houellebecqs Ausführungen über den Islam gehen über das Typische nicht hinaus, Neues sollte man sich nicht erwarten. An der Grenze des Erträglichen empfand ich jedoch die Art und Weise, wie Frauen dargestellt sind, nämlich ausschließlich als Sex-Gespielinnen und, ab einem bestimmten Alter, als Hexen. Dann sind sie hässlich, unweiblich und eigentlich keine Frauen mehr; wenn sie jedoch gut kochen können, sind sie zumindest in dieser Hinsicht interessant. Wichtig für die  Pointe des Romans ist, dass Frauen ihre Erfüllung ausschließlich in einer eheähnlichen Beziehung finden. Tun sie das nicht, verschrumpeln sie, nicht nur, weil sie alt, sondern vor allem unerfüllt, daher frustriert und deprimiert sind. Die islamischen Frauen, die in diesem Roman vorkommen, sind das Gegenteil. Sie sind, obwohl sie nur eine von maximal vier Ehefrauen sind, zufrieden, oder, wie er schreibt: „rundlich und liebenswert wirkend“.

 

Davon abgesehen, dass Houellebecq Frankreich zum Nabel der Welt bzw. des Weltgeschehens macht, was realitätsfremd wirkt (die USA und Russland etwa kommen als politische „player“ überhaupt nicht vor), scheint mir, dass die Brisanz dieses Romans nicht darin liegt, ein islamisches Frankreich prophezeit, also vorausgesehen, sondern die gegenwärtig herrschende Angst in Frankreich eingefangen und abgebildet zu haben. Nach den Anschlägen in Paris wird diese Angst nicht kleiner werden; sie hat bereits die nächste Stufe erreicht und in einer Kriegserklärung ihr neues Gesicht gefunden.

Gastblogger/in

Anna Kim (c) Roland Dreger
(c) Roland Dreger

Anna Kim wurde 1977 in Daejeon, Südkorea, geboren. 1979 Umzug der Familie nach Deutschland wegen Gastprofessur des Vaters. Studium der Philosophie und Theaterwissenschaft an der Universität Wien. Bücher: “Anatomie einer Nacht” (Roman, Suhrkamp Verlag 2012), “Invasionen des Privaten” (Essay, Literaturverlag Droschl 2011), “Die gefrorene Zeit” (Roman, Literaturverlag Droschl 2008), “Die Bilderspur” (Erzählung, Literaturverlag Droschl 2004), “Figure du souvenir/Die Form der Erinnerung” (Editions les bilingues MEET 2011), "Der sichtbare Feind" (Essay, Residenz Verlag 2015). Zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt: Robert-Musil-Stipendium 2011-14, Literaturpreis der Europäischen Union 2012. www.annakim.at

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