„Ganz Ohr!“ – Ausbildung für VorlesepatInnen

Vorlesen boomt und dafür sind VorlesepatInnen gefragt. Das Konzept „Ganz Ohr!“ bietet Interessierten österreichweit eine Ausbildung zur Vorlesepatin/zum Vorlesepaten an.

AutorIn: 
Reinhard Ehgartner


„Wer eine Geschichte zu erzählen hat, ist ebenso wenig einsam wie der, der einer Geschichte zuhört. Und solange es noch jemanden gibt, der Geschichten hören will, hat es Sinn, so zu leben, dass man eine zu erzählen hat.“ (Sten Nadolny in „Selim oder Die Gabe der Rede“)

Wir leben in Geschichten, deuten uns aus Geschichten und schreiben ein Leben lang an unserer eigenen. Und es ist unser Wunsch, diese Geschichten miteinander zu teilen. Lesen sucht das Du. Das scheinbar so einsame Geschäft des Lesens bildet ein wesentliches Bindeglied im sozialen Zusammenleben der Menschen und vermag über Generationen und Kulturen hinweg Beziehungen aufzubauen. 

„Lesen“ und „Leben“ sind nur durch einen Buchstaben voneinander getrennt – und so eng gehören die beiden Begriffe auch zusammen. Im Lesen richten wir den Blick auf die Welt und treten zugleich in ein Gespräch mit uns selbst ein. Noch intensiver wird dieser Austausch im Geschehen des Vorlesens. Die Ideen und Weltentwürfe der AutorInnen, die vermittelnde und interpretierende Stimme der Vorlesenden und die in körperlicher wie emotionaler Nähe dem Geschehen folgenden ZuhörerInnen bilden gemeinsam einen spannungsvollen Raum des Denkens und Spürens, in dem neue Bilder entstehen, die Gedanken zu fließen beginnen und das Leben zur Sprache kommt.

Vorlesen boomt. Die Rückkehr dieser bereits versunken geglaubten Tradition überrascht auf den ersten Blick, kann aber bei genauerem Hinsehen unschwer als Gegentrend zur digitalen Beschleunigung und medialen Omnipräsenz nahezu aller Formen von Information und Unterhaltung gedeutet werden. In einer Vorlesesituation tritt man in einen vertrauten Kreis Gleichgesinnter, nimmt sich bewusst Zeit füreinander und erfährt ein entschleunigendes Sich-Sammeln gegen den dominierenden Trend der Zerstreuung.

 

Wiederentdecken einer alten Tradition

Neu in seiner Qualität erkannt wurde das Vorlesen vor allem auf dem Gebiet der Lese- und Sprachförderung. Die Untersuchungen zu PISA haben wissenschaftlich zutage gefördert, was viele Eltern und BücherfreundInnen immer schon wussten: Im Vorlesen und im dialogischen Herangehen an Bilderbücher und Geschichten entwickelt sich unsere Sprache, werden die menschlichen Innen- und Außenwelten erkundet und vertiefen sich die Beziehungen innerhalb der Familie oder einer Gruppe.

Beliebte Vorleseorte außerhalb der Familie finden sich heute vor allem in öffentlichen Bibliotheken, Kindergärten, Eltern-Kind-Gruppen oder Seniorenheimen. Um dem allseits aufflackernden Trend Richtung zu geben und die Freude des Vorlesens breiteren Teilen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, haben sich 2014 auf Initiative des Österreichischen Bibliothekswerks VertreterInnen katholischer Bildungseinrichtungen (MARKE Elternbildung, Katholisches Bildungswerk, Seniorenpastoral und Caritas) zusammengefunden, um ein österreichweites Curriculum für die Ausbildung von VorlesepatInnen zu entwickeln und entsprechende Kurse anzubieten. Dabei hat man sich vor allem die Konzepte und Erfahrungen aus Vorarlberg nutzbar gemacht, wo die Bibliotheks-Fachstelle mit der Caritas bereits seit 2012 in einer Art Vorreiterrolle überaus erfolgreich entsprechende Ausbildungskonzepte erarbeitet und umgesetzt hat.

 

Ganz Ohr!

Das Vorarlberger Konzept unter dem Titel „Ganz Ohr!“, das nach der Ausbildung auch ein begleitendes Betreuungsnetz bietet, wurde adaptiert, zertifiziert und mittlerweile in allen österreichischen Diözesen und Bundesländern erfolgreich aufgegriffen und umgesetzt.  Bereits mehr als 500 TeilnehmerInnen haben bis Ende 2017 die meist auf drei Tage verteilten Workshops besucht, sich mit den technischen, pädagogischen, sozialen und rechtlichen Aspekten des Vorlesens auseinandergesetzt und Sicherheit in der Gestaltung eigener Vorlesekonzepte und -situationen gewonnen. War der Fokus anfänglich auf Vorlesen mit Kindern von zwei bis zehn Jahren gerichtet, so wurde bald der Wunsch laut, auch dem Vorlesen für SeniorInnen und dem Lesen im interkulturellen Kontext größeres Augenmerk zu schenken, was zur Entwicklung spezifischer Programme geführt hat.

Zur Unterstützung der Kurse wurde eine Reihe an Materialien entwickelt und Broschüren erstellt. Auf Basis der Evaluation der Kurse durch das Institut für Soziologie der Universität Wien wurde das Konzept durch das Ministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz 2017 als „Good Practice“ im Bereich der SeniorInnen-Bildung ausgezeichnet.

 

Begeisterung auf allen Seiten

Im Unterschied zu LesepatInnen im Schulbereich, die sich zumeist in Eins-zu-eins-Situationen der Förderung der Lesekompetenz annehmen, stehen für die  Ganz-Ohr-VorlesepatInnen die Lesefreude und sozial-integrative Aspekte im Vordergrund. Es geht nicht um die Organisation längerer Lesungen, sondern vielmehr darum, gemeinsam in eine Geschichte einzutauchen, sie mit dem eigenen Leben in Beziehung zu setzen und Gedanken und Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Diese Form des Vorlesens ist immer dialogisch und bringt das Leben im wörtlichen Sinn zur Sprache.

Bei aller Unterschiedlichkeit in ihrer Herkunft oder Ausbildung ist den VorlesepatInnen eines gemeinsam: die Freude in der Begegnung mit anderen Menschen. Das Alter der VorlesepatInnen ist breit gefächert, am stärksten vertreten ist die Gruppe der 50- bis 70-Jährigen, der Männeranteil liegt mit 7 Prozent noch sehr niedrig. Das gemeinsame Lesen von Sachbüchern zu MINT-Themen, angereichert mit kleinen Experimenten, soll diesen Anteil in Zukunft heben.

Aus den Rückmeldungen der LesepatInnen werden die bereichernden und berührenden Erfahrungen der Vorlesenden deutlich, wenn im Gespräch der Generationen Lebenserfahrung und neue Weltsichten einander begegnen. Die VorlesepatInnen spüren und erleben, wie sie von den Kindern oder SeniorInnen erwartet werden. Das stärkste Medium ist nicht das mitgebrachte Buch, sondern der Mensch selbst.

 

Reinhard Ehgartner ist Geschäftsführer des Österreichischen Bibliothekswerks.

April 2018. Dieser Artikel ist erstmals in den „Büchereiperspektiven 1/18“ erschienen.

 

 

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