Papierkonstruktionskunst

Pop-up-Bücher eröffnen eine plastische, dreidimensionale Ebene. Ihre Illustrationen füllen den ansonsten leer bleibenden Raum zwischen Buchseiten und LeserInnen, sie kommen den BetrachterInnen entgegen.

AutorIn: 
Andrea Kromoser


Mehr noch als das: manchmal können die Bilder in Pop-up-Büchern fliegen. In "Komischer Vogel" von Philippe Ug zum Beispiel. Dort erheben sich beim Aufblättern eigenwillige jedoch ebenso elegante Vogelfiguren aus den Buchseiten: "Die ersten Sonnenstrahlen kitzeln die Vögel aus ihren Träumen." (1) Für die Darstellung von Natur aus nach oben, gegen Himmel strebende Lebewesen scheint das Pop-up besonders gut geeignet. Denn sie erzielen sozusagen doppelte Wirkung. Anouck Boisrobert und Luis Rigaud geben in "Das Faultier im Pop-up-Wald" diesem Naturgesetz ebenfalls Raum und lassen Bäume wachsen. Während auf einer Doppelseite mittels beweglicher Papierlasche jungen Baumsetzlingen bei ihrer ersten Wachstumsphase geholfen werden kann, sprießen sie auf der darauf folgenden Seite fast ganz von selbst. "Der Faultierwald ist zu neuem Leben erwacht. Und das Faultier – siehst du es? – schaukelt sanft in einer Baumkrone." (2) Mit dem Umblättern der letzten Seite dieses Bilderbuches hat das Faultier seinen davor von Rodungen völlig zerstörten Wald zurückbekommen. Mussten die LeserInnen zuvor beim Blättern jeder einzelnen Seite wiederholt befürchten, an den zerstörerischen Entwicklungen im Faultierwald selbst aktiv beteiligt zu sein, so lässt die letzte Seite aufatmen und auf weiteres Wachstum hoffen. Philippe Ug nutzt die Wirkung der Pop-up-Elemente auf ähnliche Weise. In "Komischer Vogel" wird ebenso Entwicklung, bzw. die daraus resultierende Bewegung dargestellt. Abends kehren die frisch geschlüpften Papiervogelkinder auf den elterlichen Baum zurück, welcher den LeserInnen im Dämmerlicht entgegenwächst.

 

Aktives Wachstum

Diese spezifische Möglichkeit, Wachstum aktiv mittels Papierelementen darzustellen, macht sich auch der Illustrator Arno zu nutzen. "Ein Tiger in meinem Garten" ist ein "Pop-up-Buch zum Selbermachen". Mittels herauslösbaren Elementen und Schritt-für-Schritt-Anleitungen können jene Gärten selbst zusammengebaut und -geklebt werden, die schlussendlich einer ebenso haptischen, papierenen Tigerfigur als Handlungs- und Spielraum dienen.(3) Die Designerin Jekaterina Testina-Lapschina spricht von einer Körperlichkeit, die durch Pop-up-Bücher forciert wird. "Das Buch entwickelt beim Kind das Verständnis dafür, dass alles um uns herum physische Eigenschaften hat" (4). Antje von Stemm verdeutlicht diese dem Objekt Buch grundsätzlich eigene Gegenständlichkeit, indem sie dessen Entstehung schrittweise in Form eines Pop-up-Buches zum Selberbasteln erfahrbar macht. Während bei Arno vorgestanzte Pop-up-Elemente einfach herausgelöst werden können, greifen die RezipientInnen in „Die Pop-up-Girls“ selbst zur Papierschere und werden damit zu RetterInnen einer bislang völlig gelangweilten Figur. "Aus lauter Langeweile habe ich heute versucht, die Schere zu überreden, mich freizuschneiden: Ich habe ihr in den schillerndsten Farben ausgemalt, was für fantastische Abenteuer wir gemeinsam erleben könnten." (5) Hier wird auf beiden Ebenen weiter erzählt: Fräulein Pop berichtet aus der Ich-Perspektive einen fiktiven Handlungsverlauf, während sachliche Anleitungen den haptischen Entstehungsprozess der Geschichte voranbringen und damit die LeserInnen sowohl selbst die Entwicklung eines Pop-ups erfahren als auch hinterfragen können. Denn schon nach den ersten, selbst geschnittenen und geklebten Seiten wird die Komplexität dieses zeitaufwändigen Prozesses deutlich. Wenig verwunderlich, dass es für die professionelle Entwicklung eines Pop-up-Buches eigens damit beschäftigte ExpertInnen braucht: "Pop-up-Bücher werden von Menschen entworfen, die von Beruf ‚Paper Engineer‘ sind, oder anders gesagt: Ingenieure für Papierkonstruktionen. Diese Ingenieure müssen den besonderen Umgang mit Papier beherrschen." (6) Einer der weltweit bekanntesten Menschen, der die Besonderheiten des Werkstoffes Papier bis in das kleinste Detail überblickt, ist der amerikanische Künstler David A. Carter.

 

Paper Engineering

Carter arbeitet bevorzugt mit geometrischen Formen, in deren starre Grundstruktur er mittels Pop-up-Techniken Bewegung bringt. Seinen Bilderbuchsseiten entspringen opulente Konstruktionen: farbenkräftige Objekte, die Blickfang und Spielaufforderung zugleich sind. "Durch Blättern, Klappen und Bewegen sind 53 Punkt‘ zugegen."(7) – In "600 schwarze Punkte" ist jede Seite eine kleine (oder größere) Herausforderung. (Je nach individuellen Kenntnissen in Logik, Kombinationsfähigkeit und dem Zählen im Zahlenraum bis 600.) Wie für das Pop-up-Buch charakteristisch, können auch bei David A. Carter einzelne Elemente mittels Papierlaschen bewegt werden. So entstehen Spielbilderbücher, deren Szenen sich erst mittels der, von den LeserInnen in Gang gesetzten, Bewegung entwickeln. Wie in allen Pop-up-Büchern sind auch David A. Carters Illustrationen bewegte Bilder, sie kommen den LeserInnen entgegen, faszinieren durch ihre Haptik und überraschen durch dreidimensionale Effekte, indem sie sich in einen – üblicher Weise – leer stehenden Raum hinein ent-falten.

 

Anmerkungen

(1) Philippe Ug: Komischer Vogel. Prestel 2012. Ohne Paginierung.

(2) Anouck Boisrobert/Luis Rigaud: Das Faultier im Pop-up-Wald. Jacoby & Stuart 2011. Ohne Paginierung.

(3) Arno: Ein Tiger in meinem Garten. Das Pop-up-Buch zum Selbermachen. Prestel 2014.

(4) Maria Polyak: Popup-Bücher lassen uns unverändert staunen. Interview mit Jekaterina Testina-Lapschina. Online-Magazin Goethe-Institut Russland 2012.

(5) Antje von Stemm: Die Pop-up-Girls. Abenteuer im Papierland. Ein Pop-up-Buch zum Selberbasteln. Gerstenberg 2009. Ohne Paginierung.

(6) Maria Polyak: Popup-Bücher lassen uns unverändert staunen. Interview mit Jekaterina Testina-Lapschina.

(7) David A. Carter: 600 schwarze Punkte. 2. Aufl. Boje 2008. Ohne Paginierung.

 

Literatur

  • Veronika Kyral: Ziehen, hebeln, klappen, aufstellen, drehen, … Vom Anfang des Pop-ups bis zum heutigen Paper Engineering. In: 1000 und 1 Buch 4/2010. S. 36 - 40.

 

 

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